Frank Urbaniok ist deutsch-schweizerischer Professor für Forensische Psychiatrie und unter anderem als Gutachter, Supervisor und Berater für Unternehmen und Führungspersonen tätig. Er war von 1997 bis 2018 Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich und prägte den Schweizer Maßnahmenvollzug maßgeblich.
In Folge seiner Bestellung für ein methodenkritisches Gutachten zu einem Gutachten von einem der meistbeschäftigten österreichischen Gutachter war Urbaniok im Land und stand uns für das Interview zur Verfügung.
Professor Urbaniok, Sie sind ein sehr erfahrener forensischer Psychiater und haben mehrere Jahrzehnte in der Schweiz den dortigen Maßnahmenvollzug geprägt. Möchten Sie einleitend ein paar Worte über Ihre Tätigkeiten in der Schweiz sagen?
Ich möchte über meine Grundpositionierung reden. Die gilt für die Forensik, für Psychiatrie, die gilt aber auch generell. Ich erlebe mich häufig zwischen den Extremen. Also nicht auf den Polen von schwarz oder weiß, immer oder nie, alles oder nichts, sondern das Zauberwort für mich ist Differenzierung. Ich trete vehement für Opferschutz ein, für die Verhinderung von Kriminalität. Das ist mir seit mehr als dreißig Jahren ein sehr großes Anliegen.
Die forensische Psychiatrie könnte dazu durch Gefährlichkeitsbeurteilungen und risikosenkende Therapien eigentlich viel beitragen. Leider gibt es in diesem Bereich aber auch viele Fehler. Ich bin vor mittlerweile 28 Jahren nach Zürich gekommen. Das ist eine lange Zeit. Damals gab es einen Trend in ganz Europa, indem die Theorie verfolgt wurde, Straftaten seien die Folge von gesellschaftlichen Missständen. Das war eine Auswirkung der 68er-Bewegung. Die Reformbewegung durch die 68er hat wichtige Verbesserungen gebracht, denn wir hatten in den Jugendheimen und auch im Strafvollzug sehr autoritäre Strukturen, da gab es Gewalt. Es war wichtig, dass es da Reformen gab. Und wie es ja so oft ist, wurde dann das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Es ist dann auch so wie ein Dogma geworden. Und dieses Dogma war zum Teil aus einer, links-ideologischen Perspektive heraus: dass Sein prägt das Bewusstsein. In dem Sinne: Straftaten gibt es, weil die Gesellschaft irgendwas falsch gemacht hat. Und wenn die Gesellschaft alles richtig machen würde, dann gäbe es gar keine Straftäter mehr.
Das sehe ich komplett anders. Ich komme sehr stark von der Person. Es gibt persönliche Dispositionen, es gibt Risikoeigenschaften und dann sind wir auch bei den Begutachtungen, dass man das gut und differenziert erkennt. Zu der Zeit, in der ich in Zürich anfing, hatte es in den Jahren zuvor gravierende Rückfälle gegeben. Ein Wendepunkt war der Mord am Zollikerberg in Zürich. Es ging um Erich Hauert, einen Sexualmörder mit zwei Sexualmorden und elf Vergewaltigungen. Dem hatte man unbegleitete Hafturlaube gegeben. Damals hatte man gesagt, jeder hat eine zweite, dritte, vierte, fünfte, sechste Chance verdient. Hauert beging auf einem seiner Hafturlaube erneut einen Sexualmord an einer jungen Frau. Ich bin nach Zürich gekommen und muss sagen, mir standen die Haare zu Berge, was da alles passiert war, was man in Kauf genommen hatte. Man hatte Verwahrte standardmäßig, also im Gießkannen-Prinzip, im Schnitt nach drei Jahren entlassen. Zu dieser Zeit gab es Rückfallraten von 50 bis 60 Prozent in diesem Bereich, es war unerträglich.
Ich habe Fälle gesehen, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Zum Beispiel war ein jugendlicher Sexualstraftäter in einer Jugendeinrichtung inhaftiert gewesen. Der hat in dieser Einrichtung nachts einer Betreuerin einen Knüppel über den Kopf geschlagen und sie vergewaltigt. Dann ist dieses Opfer von dem Direktor unter Druck gesetzt worden, keine Anzeige zu machen, weil man dem jungen Mann nicht die Zukunft verbauen wolle. Er hat dann nach seiner Entlassung einen Sexualmord verübt.
Wie verlief Ihre Ankunft in der Schweiz und welche Modelle haben Sie entwickelt?
Ich hatte in Deutschland schon drei Jahre ein Behandlungsmodell für persönlichkeitsgestörte Sexualstraftäter aufgebaut. Das ist so etwas wie meine Lehrzeit in der Forensik gewesen. Ich bin mit diesen Menschen sehr dicht zusammen gewesen. Wir haben Sachen gemacht, die könnte man heute gar nicht mehr machen. Wir sind eine Woche mit denen auf einen Campingplatz gefahren. Ich war also dicht, sehr dicht dran. Und ich bin grundsätzlich überzeugt, dass viel geht, wenn man sich anstrengt, wenn man es gut macht, ist viel über Therapie erreichbar. Manchmal übrigens auch ohne Therapie. Es muss nicht immer eine Therapie sein, sondern für mich ist die Frage, was nutzt. Wenn es nutzt, ist es mir egal, auf welchem Weg das zu Stande kommt. Da sehe ich sehr pragmatisch. Jedenfalls komme aus dieser intensiven therapeutischen Arbeit, da habe ich selbst viel gelernt.
Ich hatte dann danach die Möglichkeit, in der Schweiz ein Modell aufzubauen, denn das bisherige System war an die Wand gefahren. Es lief drunter und drüber. Und da hat man mich gefragt, ob ich das übernehme. Das hat mich sehr angesprochen, denn ich mache gern etwas Neues und baue gerne etwas auf. Der Leidensdruck im Justizsystem war hoch. Also habe ich gesagt: „Okay, packen wir es an, machen wir es!“ Schon zuvor in Deutschland hatte ich deliktorientiertes Arbeiten entwickelt. Bis dahin hatte man in den Therapien viel über die Mutter und die Kindheit geredet, aber das hat für mich gar keinen Sinn gemacht. Ich habe gesagt, wir müssen über Delikte reden, wir müssen über Straftaten reden, wir müssen Menschen dafür sensibilisieren. Vor diesem Hintergrund habe ich Behandlungsmethoden wie beispielsweise die Deliktrekonstruktion entwickelt, wie man das technisch durchführt und wie man mit gefährlichen Fantasien arbeitet. Das hat mir viel Freude gemacht, denn wir konnten etwas bewegen. Aber ich wusste aufgrund dieser Arbeit auch: es gibt Grenzen, es gibt hochgefährliche, unbehandelbare Straftäter. Das wusste ich nicht aus der Theorie, sondern weil wir wirklich alles versucht haben, was man ausreizen konnte. Und daraus hatte ich auch ein Gefühl für die Grenzen und das nicht alles geht .
Das Modell ist dann in Deutschland bekannt geworden. Schon damals habe ich die Position vertreten: „Es gibt hochgefährliche, unbehandelbare Straftäter und man muss die Bevölkerung vor diesen Straftätern schützen. Das ist eine sehr kleine Gruppe. Dann gibt es viele, da kann man mit intensiven Therapien etwas machen, dann gibt es eine andere Gruppe, da reichen weniger intensive Therapien aus, dann gibt es andere, da reichen ganz einfache Maßnahmen. Man macht zum Beispiel ein Kontaktverbot, man nimmt jemanden eine Waffe weg, man kontrolliert Alkohol, bei manchen reicht das auch, und dann gibt es auch gar nicht wenige, da man muss gar nichts tun. Und das ist eigentlich mein Credo bis heute, wenn ich sage Differenzierung. Es ist nicht schwarz-weiß, es ist nicht immer-nie, sondern es ist dieses Spektrum. Man muss diesem Spektrum gerecht werden, Da spielen Gutachten, Risikobeurteilungen, wenn sie richtig gemacht sind, eine sehr wichtige Rolle, damit man weiß, welche Maßnahmen sind wirkungsvoll und verhältnismäßig. Eine präzise Risikobeurteilung ist immer die Basis dafür zu wissen, welche Maßnahmen sinnvoll und verhältnismäßig sind.“
Eine Gesellschaft mit weniger Opfern ist eine gesündere Gesellschaft. Ich habe das, als ich nach Zürich gekommen bin, genauso vertreten. In den ersten Jahren bin ich sogar beschimpft worden. Es gab Juristen, die haben mich in eine fast rechtsradikale Ecke gesteckt. Es wurde gesagt: Lebenslange Verwahrung, das ist ja wie bei Hitler im Dritten Reich. Das ist zum Teil die Tonalität gewesen. Und sowas kam häufig von Menschen, die am Schreibtisch saßen, die nie direkt mit Tätern etwas zu tun hatten. Das war die erste Zeit. Dann haben wir aber in Zürich ein System aufgebaut, das sehr auf Prävention ausgerichtet ist, also auf die Verhinderung von Straftaten. Da hat es viele Weichenstellungen gegeben, zum Beispiel zu sagen, dass sich der Strafvollzug nicht darin erschöpft, dass drinnen Ruhe und Ordnung herrscht, und danach ist uns egal, was passiert, sondern bei den Menschen, die gefährlich sind, brauchen wir Risikomanagement-Prozesse, vor allem nach der Entlassung. Mittlerweile kenne ich nicht wenige Menschen über mehr als 20 Jahre, die nicht mehr rückfällig geworden sind. Das ist eine Freude für alle Beteiligten.
Und was waren die Folgen Ihres Aufbaus?
Es wurde viel geforscht. Wir haben nun in Zürich seit vielen Jahren bei den therapierten Straftätern eine einstellige einschlägige Rückfallquote von unter 5%. Es ist jeder Fall zu viel, aber es ist sicher international eine Zahl, die wenige erreichen. Und das spart obendrein auch noch Geld. Wir haben das ausgerechnet. Die ambulanten Therapien kosten in der Schweiz ungefähr mit allem Drum und Dran 25.000 Franken im Jahr. Wir mussten nur wenige Rückfälle verhindern, um Geld zu sparen. Denn Straftaten sind mit hohen gesellschaftlichen Kosten verbunden. Von dem Leid der Betroffenen und der Opfer mal ganz abgesehen, ist es schon allein aufgrund von Ermittlungs- und Strafvollzugskosten wahnsinnig teuer. Vielleicht sind Opfer traumatisiert und brauchen Behandlung. Angehörige sind betroffen, Menschen verlieren Vertrauen und vieles mehr. Straftaten sind neben dem Leid für die Gesellschaft eine unglaublich folgenschwere Belastung auf vielen Ebenen. Alles, was wir da an Prävention machen können, alles, was wir zur Verhinderung von Rückfällen zu tun können, zahlt sich darum aus. Im Unterschied zu Deutschland, Österreich und anderen Ländern, in denen es auch schwere Delikte gegeben hat, hat der Mord am Zollikerberg in Zürich tatsächlich zu tiefgreifenden Veränderungen geführt. An anderen Orten gab es zwar nach schweren Straftaten auch eine kurze Zeit öffentliche Diskussionen. Aber dann ist das Thema auch schnell wieder aus der Politik verschwunden. Bestenfalls gab es symbolische Maßnahmen wie höhere Mauern, die zeitweise Aussetzung von Vollzugslockerungen oder die Einführung neuer bürokratischen Regeln. Genau das war in Zürich anders. In Zürich gibt es bis heute eine nachhaltige politische Diskussion zum Umgang mit Straftätern.
Welche Ansätze verfolgen Sie sonst noch?
Wie erwähnt sind viele Diskussionen schwarz oder weiß. Ich setze mich zum Beispiel sehr dafür ein, dass man überproportionale Ausländerkriminalität und Migrationsprobleme ernst nimmt und dass diese Themen nicht von den Hetzern bewirtschaftet werden, sondern von vernünftigen Menschen. Vernünftige Menschen, die erkennen, es gibt Probleme und wir müssen sie anpacken. Denn wenn wir die Probleme nicht benennen und lösen, haben sie das Potenzial, unsere Gesellschaft zu zerreißen. Wenn wir das nicht konsequent angehen, nutzt es den Radikalen, den Hetzern und Rassisten. Darum müssen vernünftige Menschen aus der Mitte der Gesellschaft diese Probleme aufgreifen. Die Ausländer, die nicht integrationsfähig oder integrationswillig sind, müssen das Land verlassen. Auch im Flüchtlingsthema ist die Polarisierung der Diskussion ein Problem. Die einen sagen, das sind alles Kriminelle, die anderen sagen, das sind alles Opfer. Ich bin absolut dafür, dass wir armen, verfolgten Menschen Schutz geben. Aber beide Extrempositionen stimmen nicht. Es kommen Opfer, es kommen aber auch vermehrt kriminelle, gewaltbereite und politisch-religiös radikale Personen. Und so geht mir das in sehr vielen Themen. Häufig ist es nicht schwarz-weiß, sondern in der Differenzierung gibt es ein Sowohl-Als-auch.
Haben Sie bei Ihrem methodenkritischen Gutachten das erste Mal auch mit einem österreichischen Gutachten zu tun gehabt?
Nein, nicht das erste Mal. Ich habe österreichische Gutachten schon gesehen.
Wie war Ihr Eindruck in diesem Fall?
Ich fange mal anekdotisch mit den Richtern an, da gab es eine Bemerkung zu meiner Kleidung. Das habe ich eher etwas belustigt zur Kenntnis genommen, denn ich bin seit dreißig Jahren an sehr vielen Gerichten. Ich habe auch kein Problem mit einem Hemd und einer Krawatte, aber in der Tat bevorzuge ich meist einen eher lockeren Kleidungsstil, den man im Englischen als „casual“ bezeichnen würde. Das mache ich nicht aus Provokation, sondern weil ich mich darin wohlfühle. Dass das für einen Professor aus der Schweiz als unpassend wahrgenommen wurde, war schon etwas speziell. Das hat mich aber nicht weiter irritiert, weil ich ja dort war, um fachlich Auskunft zu geben und nicht um meine Garderobe zu präsentieren.
Wie ging es dann weiter?
Ich hatte mich bereits zuvor schriftlich geäußert und kam zum Schluss, dass das Gutachten für mich keine Beurteilungsgrundlage für diese folgenreiche Entscheidung war, ob der Beschuldigte in ein forensisch-therapeutisches Zentrum eingewiesen werden müsse. Das Gutachten war einfach mangelhaft. Mir ging es auch nicht darum zu beurteilen, ob der Sachverhalt stimmt oder nicht. Das ist eine andere Geschichte, das war nicht mein Thema. Mein Thema war die Qualität des Gutachtens und die war einfach schlecht. Es gab zahlreiche handwerkliche Fehler. Da wurden Tests falsch eingesetzt und Diagnosen nicht hergeleitet. So wurde zum Beispiel eine kombinierte Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, ohne dass seriös die allgemeinen Kriterien für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung diskutiert worden sind. Somit blieb die Frage unbeantwortet, ob überhaupt eine so schwere Abweichung vom Durchschnitt vorliegt, dass es eine Persönlichkeitsstörung ist.
Das wäre aber gar nicht das Schlimmste. Das, was ich hauptsächlich kritisiere, ist der Kern von Gutachten. Der Kern von jedem Gutachten ist das, was ich die psychologische Erklärung der Tat nenne. Ich kann es anders sagen: der Deliktmechanismus. Wie hängt die Person mit der Tat zusammen? Wie erkläre ich aus Eigenschaften, aus Gedanken, Gefühlen, Wahrnehmungen der Person die Tatbegehung? Das ist die Basis eines jeden Gutachtens. Diese psychologische Erklärung der Tat, also die Darlegung und saubere Herleitung des Deliktmechanismus, gab es in diesem Gutachten nicht.
Um einen Deliktmechanismus zu identifizieren, ist es wichtig, dass ich viele Informationen habe. Ich spreche mit der betroffenen Person, ich analysiere die Taten, ich kenne die rechtsmedizinischen Befunde, ich kenne die ganzen Akten, ich kenne vielleicht Berichte aus der Vergangenheit, aus der Schule, von früheren Behandlungen je nach dem, was es gibt. Dann muss ich am Schluss, und das ist ganz wichtig, völlig ergebnisoffen da ran gehen und alles zusammensetzen. Ich will rausfinden, welche Eigenschaften dieser Person haben zu dieser Tat geführt (Persönlichkeitstäter) oder ganz selten gibt es gar keine Eigenschaften und ursächlich ist nur eine bestimmte Situation (Situationstäter). Es ist wie das Zusammensetzen eines Puzzles, das am Schluss ein schlüssiges Gesamtbild ergeben muss, in dem alles aufgeht. Dieses Gutachten war keine Grundlage, weder für die Beurteilung des Risikos noch für den empfohlenen Maßnahmenvollzug.
Dem Gerichtsgutachter wurde die Möglichkeit eingeräumt, sein Gutachten zu erklären?
Ja, das war der Versuch, das Gutachten zu verbessern. Und da muss ich auch objektiv sagen, es hat Verbesserungen gegeben. Der Gutachter hat dieses Manko im Hinblick auf die Erklärung, ob die Schwelle der Persönlichkeitsstörung überhaupt überschritten ist, diskutiert. Das hat er dann breit vorgetragen und darauf hingewiesen, dass es schon in der Schule Auffälligkeiten gab, was dann ein Beleg für das sei, was der Gutachter eine Diskontinuität nannte. Neben dem Beziehungsverhalten des Beschuldigten und den Delikten hat er dann daraus geschlossen, dass damit die Kriterien für die Diagnose der Persönlichkeitsstörung erfüllt sind. Das war der Kern seiner Argumentation. Man kann diskutieren, ob das stimmt oder nicht. Aber der Gutachter hat zumindest formal in diesem Teil nachgelegt, was in dem ursprünglichen Gutachten noch nicht der Fall war.
Ich habe einige Sachen nachgefragt. Zum Beispiel warum er das nicht im Gutachten schon sorgfältig gemacht hat. Darauf hat er gesagt: „Das muss ich gar nicht machen, sondern wenn ich da reinschreibe, er hat eine Persönlichkeitsstörung, dann ist das im Prinzip in meinem Kopf schon abgelaufen. Dann weiß jeder, das ist passiert, dann muss ich es nicht mehr aufschreiben.“ Das ist, wie soll ich es sagen, doch eine recht luftige Erklärung dafür die Herleitung einfach wegzulassen. Aber diesen Teil hat er in der Befragung nachgeholt und damit verbessert.
Das zentrale Element der psychologischen Erklärung der Tat, also den Deliktmechanismus darzustellen und herzuleiten, das ist aus meiner Sicht nach wie vor nicht gelungen. Das habe ich dann auch gesagt. Es ist zum Teil so ein Sammelsurium gewesen von emotional instabil, narzisstisch, sadistisch, dissozial und dann wurden noch ein paar Kriterien der Psychopathie-Checkliste (PCL-R) in die Runde geworfen. Die prägnante Identifizierung risikorelevanter Eigenschaften des Beschuldigten und die Herleitung eines überzeugenden Deliktmechanismus war das jedenfalls nicht. Die Beschreibung des Gutachters war nicht zufällig, aber ich habe es „Kraut und Rüben“ genannt. Weder die Diagnosen noch die psychologische Erklärung der Tat wurden prägnant dargestellt und hergeleitet Deswegen war mein Eindruck, dass die Verbesserung, so wie sie dargelegt worden ist, nicht ausreichend gelungen ist.
Der Anwalt hat einen neuen Gutachter beantragt, das wurde abgelehnt. Für Sie nachvollziehbar?
Das ist eine juristische Entscheidung. Wahrscheinlich wollte das Gericht keine weitere Zeitverzögerung bei dem jetzt schon lange andauernden Strafverfahren.
Vielleicht will man es sich als Gericht nicht mit einem der vielbeschäftigten Gutachter verscherzen?
Solche Dinge dürfen keine Rolle spielen. Ich kann nicht mal sagen, ob ein professionelles Gutachten zu einem anderen Ergebnis kommt. Nötig ist aber eine tragfähige Beurteilungsrundlage. Das ist mein Argument, dass das Gutachten keine tragfähige Beurteilungsgrundlage darstellt. Und ob das jetzt mit einer neuen Exploration durch denselben Gutachter gelingt, kann man bezweifeln. Rein pragmatisch hätte ich an Stelle des Gerichts dem Antrag auf eine Neubegutachtung stattgegeben. Den für ein neues Gutachten gibt es aus meiner Sicht einen triftigen Grund.
Welcher Grund würde dafürsprechen?
Ich finde es richtig, dass der Angeklagte sich den Gutachter nicht aussuchen kann. Ich finde auch, wenn der Angeklagte aus taktischem Interesse schweigt und nichts sagt, dann muss man das Gutachten halt ohne seine Äußerungen machen. Damit habe ich kein Problem. Aber der Fall liegt anders, wenn das Erstgutachten tatsächlich schlecht war. Ich versetze mich dann in die Person hinein und frage mich wie es mir ginge, wenn ich davon betroffen wäre. Dabei stelle ich mir beispielsweise vor, ich werde von einem Orthopäden operiert und der hat meine Hüftoperation schlecht gemacht. Und nun wird mir gesagt: „Geh noch mal dahin, dann macht er es jetzt besser.“ Da würde ich auch lieber einen anderen Arzt aufsuchen. Aus diesem Grund hätte ich dazu geneigt zu sagen, dass es zu einer Neubegutachtung kommen soll, ist nicht nur das Verschulden des Angeklagten, sondern da gibt es vorher auch eine Fehlleistung des Gutachters.
Ist das ein Einzelfall oder ist es ein systemisches Problem?
Ich kenne die anderen Gutachten von Herrn Hofmann nicht. Ich kenne nur dieses eine. Und bei diesem Gutachten kann ich sagen, dass ich die Vorbehalte des Angeklagten und des Verteidigers verstehe, denn das Gutachten ist einfach mangelhaft.
Den Zusehern ist auch aufgefallen, dass der Gutachter bei einem Sexualstraftäter keine Sexualanamnese gemacht hat. Was sagen Sie dazu?
Also, ich glaube, da haben die Richter sogar kurz überlegt, wie das geht und haben gehofft, dass der Gutachter dann sagt: „Ja, ich habe eine gemacht.“ Aber das ist nicht passiert. Wie soll das aber auch alles in 15, 20 Minuten Explorationszeit abgelaufen sein? Unmöglich! Seine Begründung war aber sehr speziell, und ich vermute, er hat geglaubt, er kommt damit durch. Immer wenn es unbequem wurde, hat er gesagt, das sei spekulativ oder es ist eine Sachverhaltsbewertung, die das Gericht entscheiden müsse. Das hat er auch an Stellen gemacht, an denen es einfach nicht stimmt. Eine Stelle war die mit der Sexualanamnese. Da hat er gesagt, der Angeklagte bestreitet die Taten, also kann ich keine Sexualanamnese machen. Das ist sachlich falsch, denn es gibt ja in der Sexualität sehr viel mehr als die Delikte, das liegt vollkommen auf der Hand. Und da merkt man, dass das Argument eine Ausrede war. Das ist an anderen Stellen genauso passiert.
Manche Gutachter erstellen mehrere hundert Gutachten im Jahr. Was sagen Sie dazu?
Darüber habe ich einen Moment unglaublich gestaunt, als Sie mir das gesagt haben, weil ich selbst seit 30 Jahren Gutachten mache. Wenn man es richtig macht und wenn es normale Gutachten sind, dann kann eine Person 25, 30, vielleicht sogar 35 Gutachten erstellen. Aber schon 100 Gutachten seriös zu machen, ist unmöglich. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Und ich bin schon lange im Gutachten-Geschäft und habe viele Gutachten gesehen und viele Psychiater und Psychologen ausgebildet. Ich kann mir bei dieser Zahl nur vorstellen, dass es sich hier nicht um Gutachten, sondern vielleicht nur um irgendwelche kurzen Stellungnahmen handelt, aber selbst dann wäre das eine absurd hohe Anzahl.
Würden Sie sagen, dass solche Gutachten in Deutschland oder in der Schweiz einfach transparenter sind?
In der Ulmer-Studie 2011 über österreichische Prognosegutachten ist ja viel Kritik geäußert worden.
Ich habe in Österreich nur punktuell einen Einblick und kann daher die Gesamtsituation nicht beurteilen. Besser überblicke ich die Situation in Deutschland und der Schweiz und bin dort generell mit der Qualität von Gutachten gar nicht zufrieden. Zwei Drittel haben gravierende Mängel. Aber ein Drittel sind in Ordnung. Ob diese Quote in Österreich höher oder geringer ist, kann ich nicht sagen.
Welche sind die wichtigsten Mängel der Gutachten?
Eine Todsünde ist das Schubladenphänomen. Das Schubladenphänomen ist nicht: ich versuche, Sie genau zu verstehen, das sorgfältig und ergebnisoffen rauszufinden, sondern ich habe drei, vier, fünf Kategorien und mache Schubladen auf: narzisstisch, ich mache die nächste Schublade auf: dissozial, nächste: paranoide Persönlichkeit. Es gibt ein paar Kategorien, die werden in 80% der Gutachten gezogen. Sie werden aber nicht deswegen gezogen, weil sie so häufig sind, sondern die werden gezogen, weil sie so leicht begründbar sind.
Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
Sie machen drei Raubüberfälle. Dann kann man leicht sagen, wer so macht, der muss ja dissozial sein, der hat eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Und dann sind Sie in einem zirkularen Schluss und sagen: „Warum haben Sie eine dissoziale Persönlichkeitsstörung?“ Weil sie drei Raubüberfälle gemacht haben. „Warum haben sie drei Raubüberfälle gemacht?“ Weil sie eine dissoziale Persönlichkeitsstörung haben. Und deswegen kommt das so häufig in Gutachten vor. Es gibt dissoziale Persönlichkeitsstörungen, aber die sind viel seltener, als sie diagnostiziert werden. Ich habe das in FOTRES (Anm. Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System zur Diagnostik, Risikobeurteilung und Risikomanagement bei Straftätern) zum Beispiel so gemacht, dass ich bewusst, zwei Items reingenommen habe, die das Schubladendenken erschweren. Diese zwei Items zielen auf das Berufs- und Privatleben ab, damit man nicht nur die Delikte im Kopf hat. Wenn jemand 20 Jahre ein treusorgender Familienvater ist, dann ist das ein starkes Argument gegen Dissozialität. Ich will die Optik erweitern, dass man nicht nur sagt, Raubüberfälle ist gleich Dissozialität, sondern wie immer: die gesamte Person und die gesamte Biografie anzuschauen. Narzisstische Persönlichkeitsstörungen sind ähnlich. Sie machen gerne Sport? Sie ziehen sich gerne modisch an? Da haben Sie bei manchen Gutachtern schon halb die Eintrittskarte für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung gelöst. Weil es so einfach ist, kann man das dem Gericht dann auch so gut darlegen. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung wird aber gnadenlos überdiagnostiziert. Ich kenne Gutachter, die diagnostizieren in 90% der Gutachten, die narzisstische Persönlichkeitsstörung.
Gehört das dann zum Schubladendenken?
Ja, dieses Schubladendenken ist uns Menschen angeboren, mehr oder weniger. Es ist eine einfache Problemlösung. Es gibt eine Schublade, zack, zu, das Problem ist gelöst. Die menschliche Vernunft neigt zur Generalisierung, neigt zur Kategorisierung. Unsere Vernunft ist ein Kausalitäts-Junkie. Die sucht dauernd Verknüpfungen, möglichst schnell. Aber das kann ja kein Maßstab für die Profis wie den Gutachtern sein. Wir dürfen erwarten, dass Gutachter sich dieses Problems bewusst sind und nicht in diese Falle tappen. Dieses Überstülpen von vorgefassten Meinungen ist aber für manche Gutachter naheliegend, weil es Zeit spart und sie sich auf ausgetretenen Pfaden wohl und sicher fühlen.
Leider ist darum das Schubladendenken in der Psychologie und Psychiatrie weit verbreitet. Denn Psychiatrie und Psychologie sind grundsätzlich anfällig dafür, dass man nicht Rechenschaft darüber ablegt, ob eine Theorie von mir kommt und auf Sie übergestülpt wird oder ob ich tatsächlich etwas wahrnehme, das nicht aus meinem Denken kommt, sondern das neutral die Person beschreibt, die mir gegenübersitzt. Da habe ich noch so einen plakativen Spruch, den ich immer gerne sage, der gilt auch generell fürs Leben: „Wir müssen unser Denken an die Phänomene anpassen, aber nicht die Phänomene unserem Denken.“ Das trifft für die Gutachterei ganz besonders zu.
Wie verhält es sich mit der Annahme, dass ein Proband einen permanent anlügt, um sich herauszureden?
Das ist überwiegend nicht der Fall. Vielmehr erlebe ich es oft, dass eine Exploration, die sachlich, respektvoll und sorgfältig abläuft, für den Betreffenden eine Aufforderung und ein Grund ist, die Wahrheit zu sagen. Ich habe diese Erfahrung mit vielen Menschen gemacht, die ich begutachte. Obwohl es oft nicht erfreuliche Sachen sind, die ich dann feststelle. Aber selbst, wenn es sehr kritische Dinge sind, ist der Kontakt in 95% recht gut. Ich erkläre das Gutachten dann nachher auch und stehe zur Verfügung, um Fragen zu beantworten. Es kommt dabei nur selten vor, dass es dann völlig unterschiedliche Meinungen zum Gutachten gibt.
Welcher Zeitaufwand ist nötig mit einer Person zu verbringen, um diese einmal so zu kennen, dass man dann ein professionelles Gutachten verfassen kann?
Jetzt kommt wieder so eine unbefriedigende Antwort: das hängt vom Fall ab. Es gibt schizophren-psychotische Patienten, die reden nur verwirrtes Zeug, das sehe ich in 15 Minuten, da bringen auch drei Stunden mehr keinen weiteren Informationsgewinn. Es gibt Aktengutachten und ich habe so viele Informationen in den Akten und der Fall ist klar, auch wenn der Betroffen gar nicht redet. Es gibt in diesem Sinne nichts, was nicht geht. So gibt es auf der anderen Seite aber auch Fälle, die viel Zeit erfordern. Ich denke gerade an einen sehr komplexen Fall, bei dem ich mit dem Beschuldigten fast 20 Stunden zugebracht habe. Das sind die Extreme. In der Regel sind es zwischen zwei und vier Terminen mit einem Stundenaufwand von durchschnittlich zwischen vier bis acht Stunden.
Und wie wichtig ist nach Ihrer Sicht der Kontakt mit Angehörigen, mit Lebenspartnern?
Wieder unterschiedlich. Es kann wichtig sein, es kann aber auch egal sein. Wie gesagt gehe ich immer von einem Puzzle aus: habe ich alle Steine, die ich fürs Puzzle brauche? Dabei können die Informationen, an ganz unterschiedlichen Stellen stehen und aus ganz unterschiedlichen Quellen kommen. Manchmal sind die Angehörigen wichtige Informationsquellen. Ich überprüfe auch gern Plausibilitäten. Also jemand erzählt mir etwas und wenn ich dann Zweifel habe, überprüfe ich es. Es kann sich dabei auch um die Gespräche mit Drittenpersonen handeln – selbstverständlich immer nach vorheriger Genehmigung durch den Auftraggeber. Aber ich würde nicht sagen, dass man immer Informationen von Angehörigen braucht, sondern es kommt auf den jeweiligen Fall und die Fragestellungen an.
Ein Beispiel: ich habe in Deutschland jemanden begutachtet, der zwei Tötungsdelikte begangen hat. Da ging es um die Frage von Lockerungen im Strafvollzug. Ich hatte eine lange, sehr gut dokumentierte Geschichte vor mir, da muss ich mit niemandem mehr reden. Vielmehr muss ich mich nur darauf konzentrieren, den Deliktmechanismus zu verstehen und zu verstehen, wann kippt es bei ihm, was muss man tun? Also da bin ich völlig fokussiert aufs Hier und Jetzt und auf seinen Stand in der Therapie und der Verarbeitung seiner Tat und auf das, was er konkret macht, wenn er eine Stunde draußen ist. In diesem Fall bin ich sozusagen komplett weg von der Geschichte und Anamnese.
Gibt es aus Ihrer Sicht Menschen, die so gefährlich sind und bleiben, dass sie immer verwahrt bleiben müssen?
Ich erzähle Ihnen von einem Täter, den ich sehr gut kenne. Er ist seit seinem dritten Lebensjahr auffällig gewesen, er war anders als andere Dreijährige. Er fing mit fünf Jahren an seine Schwester zu terrorisieren, sie zu quälen, ihr eine Schlinge um den Hals zu legen. Mit sieben Jahren lügt und stiehlt er. Er hat in der Schule einen Konflikt mit einem Mitschüler und verletzt ihn mit einer Stichwaffe. Mit dreizehn erwacht seine Sexualität und ab da an hat er Gewaltfantasien. Er begeht mehrere Vergewaltigungsversuche. Mit einundzwanzig Jahren verübt er einen Sexualmord. Das hat nichts mit der Familie zu tun. Die Brüder und die Eltern sind völlig normal, das wurde alles untersucht. Die Biografie ist bis zum Mord wie an einer Perlenschnur langgezogen. Den Sexualmord denkt er sich vorher aus, er hat es sich gut überlegt: er lockt ein Mädchen in den Wald, fesselt sie, und vergewaltigt sie grausam. Er sitzt eine halbe Stunde später mit Kollegen in einer Kneipe und die beschreiben ihn später als entspannt und gut gelaunt. Das sind alles Zeichen für eine starke Disposition, die Sie im Grunde seit frühester Kindheit sehen.
Es gibt also eine Gruppe von Menschen, die so gefährlich sind, dass man sie wirklich nicht rauslassen kann und potenziell lebenslang weg sperren muss.
Wie würden Sie denn dann sagen, unter welchen Bedingungen sollte man solche Menschen wegsperren?
Da geht es nicht mehr um eine Bestrafung, da geht es eben um eine Sicherungsverwahrung. Da stellt sich in der Tat die Frage, wie vollzieht man das dann? Ich bin skeptisch gegenüber dem Gedanken, man muss dann alle mit lebenslanger Sicherung in eine Abteilung stecken. Denn es handelt sich ja dennoch um zum Teil sehr unterschiedliche Menschen. Aber es sollte jedenfalls eine deutliche Trennung zwischen einer Strafe und einer Verwahrung geben.
In den Niederlanden gibt es eine Longstay-Einrichtung in Form eines Dorfs. Die verfolgen den Ansatz, dass solche Täter in einem abgesonderten Bereich unter normalen Umständen leben. Sie gehen einer Tätigkeit nach, haben Tiere, und so weiter. Aber sie sind doch abgesondert eben von der Außenwelt. Ein gutes Beispiel?
Ja, das Entscheidende ist in der Tat die Außensicherung. Ist das gewährleistet, dann gibt es einen großen Spielraum. Es gibt Personen, die sind in einer Anstalt überhaupt nicht gefährlich. Es gibt aber auch Personen, die sind außen und innen gefährlich. Diesen Unterschied muss man bei der Art der Unterbringung berücksichtigen.
Kommuniziert das in der Schweiz zum Beispiel die Einrichtung oder der Zuständige, dem der untergebracht wird, dass er nicht mehr entlassen werden wird?
Es gibt in der Schweiz zwei Verwahrungsartikel. So gibt es die normale, die sogenannte ordentlichen Verwahrung. Das heißt nicht lebenslang, das heißt Open End. Dann hat es eine Volksinitiative in der Schweiz gegeben, bei der Angehörige von Opfern eine lebenslängliche Verwahrung gefordert haben, die nicht mehr jährlich überprüft werden soll, so dass jemand sicher lebenslänglich verwahrt wird. Das Volk hat eine hohe Mitbestimmung in der Schweiz, wir haben eine direkte Demokratie. Ich kenne diese Gruppe, die diese Volksabstimmung lancierte, recht gut. Die haben vor 25 Jahren eine Einstiegsveranstaltung gehabt. Das war in St. Margareten an der österreichischen Grenze. Ich kann ich mich noch gut erinnern. Ich war auf dem Podium und anwesend waren viele betroffene Angehörigen mit grauenhaften Geschichten. Da waren Eltern, deren Kind ermordet worden ist, da waren Eltern, die hatten eine Tochter, die von einem österreichischen Sexualstraftäter, der rückfällig geworden ist, vergewaltigt worden ist, halb totgeschlagen und dann in einem Kanal liegengelassen wurde. Das Kind hat knapp überlebt. Also es waren solche Geschichten, bei denen man erstmal nur demütig zuhören kann. Diese Personen stellten eine Frage: „Wie könnt ihr uns garantieren, dass extrem gefährliche Täter nicht mehr entlassen werden?“
Die haben dann 200.000 Unterschriften bei der Abstimmung bekommen. Meine Meinung war damals: Es braucht kein neues Gesetz. Man muss das in der Praxis regeln. Aber ich habe auch die Meinung vertreten, es gibt unbehandelbare, hochgefährliche Täter und wir müssen diesen Menschen eine Antwort darauf geben, dass diese extrem gefährlichen Täter nicht mehr entlassen werden. Nach der Annahme dieser Volksabstimmung wurde daher eine zweite Verwahrung geschaffen, die so genannte lebenslängliche Verwahrung, Bei der ist eine Überprüfung der Verwahrung weitgehend ausgeschlossen. Damals stellte sich sofort die Frage, geht das überhaupt nach der Europäischen Menschenrechtskonvention? Ich bin damals in der Arbeitsgruppe gesessen, die eingesetzt wurde, um das Gesetz zu formulieren und wir haben uns viele Gedanken darüber gemacht. Ich habe immer die Meinung vertreten, es muss bei der lebenslänglichen Verwahrung immer um eine Relation zwischen der Gefährlichkeit, der Ausprägung des Rückfallrisikos und der Erfolgsaussicht für eine Risiko vermindernde Veränderung gehen. Das Gesetz für diese Verwahrung wurde dann zwar geschaffen, spielt aber in der Schweiz aufgrund verschiedener juristischer Aspekte praktisch keine Rolle.
Um aber nun auf ihre Eingangsfrage zurückzukommen: die Täter, bei denen ein lebenslanger Vollzug aufgrund ihrer Gefährlichkeit geplant ist, sind in der Regel über ihre Situation im Bilde.
Was halten Sie von der Theorie, dass Täter, die in solche Anstalten natürlich mit der Zeit mitbekommen, was von ihnen erwartet wird, oder was von ihnen gewünscht wird zu hören, um Fortschritte zu erzielen und wieder entlassen zu werden? Wie kann man da gegensteuern aus Sicht der Psychiatrie oder der Psychologie, dass man dann so ein Verhalten trotzdem identifizieren kann? Weil sonst ist es mehr oder weniger eine Lernanstalt: wie verhalte ich mich konform zu einer Anstalt, damit ich am Ende entlassen werde?
Ich komme immer wieder auf den gleichen Punkt, und das ist die Qualität von Risikobeurteilungen und von Therapien. Wenn Sie das richtig machen, dann haben Sie eine sehr gute Chance, dass Sie das unterscheiden können. Allerdings muss man hier auch Folgendes präzisieren. Es gibt manchmal bei Beurteilern diesen Reflex zu sagen: Anpassung ist immer vorgeschoben. Täter lernen in der Therapie Begriffe, wie „Empathie“ oder „Introspektionsfähigkeit“ und man nimmt es ihnen dann übel, dass sie diese Begriffe gebrauchen und sagt, das klingt ja angelernt, das ist nicht echt. Das finde ich nicht fair. Weil wahrscheinlich wissen diese Täter dann mehr darüber als jemand, der nicht mehrere Jahre durch so eine Therapie gegangen ist.
In Österreich berichten sehr viele Untergebrachte, die ja teilweise sehr viele Jahre in der Maßnahme sind, dass sie auch irgendwie aus ihrer Sicht gehindert werden, weiterzukommen, weil sich alles ausschließlich um das Delikt dreht. Es kommt Ihnen vor, als ob Sie nicht als gesamte Person wahrgenommen werden, sondern auf das Delikt reduziert werden und alles andere ziemlich ausgeklammert wird. Ob das jetzt bei der Therapie ist, bei der Begutachtung oder sonst auch bei der laufenden Betreuung durch Psychologen.
Wir reden über Risiken, also müssen wir über Delikte sprechen. Das ist richtig so. Das darf aber kein Dogma werden, indem man jahrelang wie in einem sich wiederholenden Lernprogramm immer wieder die gleichen Themen durchkaut, weil einem nichts anderes einfällt. Es gibt auch hier wieder beide Varianten. Es gibt die Variante, dass jemand sagt, ich will nicht über diese blöden Delikte reden, ich rede lieber über andere Sachen, weil es bequemer ist. Vielleicht kommt diese Person nicht weiter, weil sie sich mit den Delikten und den eigenen Verhaltensweisen, die damit im Zusammenhang stehen, nicht auseinandersetzen will. Ich kenne aber auch Fälle, wo dann 10 Jahre nach dem Delikt zum 10. Mal das Gleiche standardmäßig abgearbeitet wird, ohne dass es für den Betroffenen einen Mehrwert hat. Manchmal dient das repetitive Durcharbeiten mehr den Therapeuten, weil sie so eine klare Richtschnur haben, um zu wissen, was sie machen müssen. So eine Therapie kann dann zum Selbstzweck werden und das wäre falsch.
Jetzt zum Abschluss noch eine schwierige Frage für Sie, weil die müssen sie mit Ja oder Nein beantworten: würden Sie sich in Österreich begutachten lassen?
Ich hätte jetzt spontan gesagt: ungern, sehr ungern. Wahrscheinlich habe ich aber gar keine Wahl, weil ich dann in einem Strafverfahren wäre und darüber nicht selbst entscheiden kann. Das ist keine angenehme Vorstellung und ich würde in diesem Fall wenigstens hoffen, einen ergebnisoffenen, qualifizierten und sorgfältig arbeitenden Gutachter zu bekommen.
Professor Urbaniok, wir bedanken und herzlich für das sehr interessante und ausführliche Gespräch!