Zur Gesundheitsversorgung von Gefangenen.
Zweifellos war es eine ungewöhnliche Häufung von Fluchtversuchen: Vier Gefangenen gelang innerhalb von zwei Wochen die Flucht bei einer Ausführung ins Krankenhaus. Zwei von ihnen wurden wieder gefasst, einer kehrte freiwillig zurück. Andererseits gibt es nach Aussage des Justizministeriums pro Jahr 36.000 Ausführungen[1]. Vier Fluchtversuche (oder auch fünf, im Dezember gab es einen weiteren) stellen hier gerade einmal einen Prozentsatz 0,01 % dar. Dies bietet kaum Grund für die darauffolgenden massiven Reaktionen der Politik.
Doch rechtspopulistische Politik richtet sich nicht nach Fakten, sondern nach Emotionen, die sie selbst schürt und in Folge mit emotional aufgeladenen Symbolpolitiken beantwortet. Und kaum ein Thema eignet sich besser für Emotionalisierung und Symbolpolitik als das Gefängnis. Kaum ein Thema hat auch Emotionen und Symbole so nötig wie das Gefängnis. Angeblich ist ja der „österreichische Strafvollzug ein moderner Betreuungsvollzug, der die Menschenrechte und die Resozialisierung der InsassInnen ins Zentrum stellt“[2], doch dies würde niemand unterschreiben, der auch nur oberflächlich mit dem System Gefängnis zu tun hatte. Strafvollzug ist Symbolpolitik – das Gefängnis soll denen außerhalb des Gefängnisses als Warnung und Abschreckung dienen und außerdem zeigen, dass der Staat für die Sicherheit der Gesellschaft sorgt, indem er alle wegsperrt, die diese Sicherheit gefährden könnten.
Und so betont das Justizministerium zwar einerseits der Öffentlichkeit gegenüber, dass Ausführungen schon bisher weitgehend sicher waren, schürt aber andererseits die Besorgnis oder Empörung der Volksseele und zieht zugleich Konsequenzen daraus, die angeblich mehr Sicherheit bieten. Die Union für die Rechte von Gefangenen sieht darin jedoch eine politische Scheinaktion auf dem Rücken einer ausgegrenzten Minderheit.
Vor kurzem wurde per Erlass bestimmt, dass Ausführungen ins Krankenhaus nur mit am Rücken gefesselten Händen oder Handfesseln plus Bauchgurt erfolgen dürfen. Diese überschießende Reaktion macht Gefangenen das Leben noch einmal schwerer. Das Fesseln am Rücken, bzw. eng am Körper reduziert die Beweglichkeit und den Gleichgewichtssinn. Das erschwert die Flucht, aber auch das Gehen während der Ausführung. Und diese generelle Anordnung widerspricht den Erkenntnissen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wie auch des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs (VwGh). Dies allerdings gilt schon für die bisherige Praxis.
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“
Denn auch vor dieser Verschärfung wurden Gefangene im Regelfall gefesselt ausgeführt und blieben gefesselt, außer wenn dies die notwendigen Untersuchungen verunmöglicht hätte. Und bei ihren ärztlichen Gesprächen waren Justizwachebeamt*innen in Hörweite. Genau diese Praxis wurde in Bezug auf das französische Strafvollzugssystem im Jahr 2011 vor den EGMR gebracht[3]; der Beschwerdeführer sah in dieser Behandlung einen Verstoß gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“, und der Gerichtshof gab ihm recht. Ein längeres Zitat aus diesem Urteil erscheint hier sinnvoll:
„(D)er Beschwerdeführer (wurde) gefesselt und in Handschellen gelegt, (war) während des Transports und der medizinischen Behandlungen gefesselt (…) und (…) wurde ständig auch während der Untersuchungen (…) von Aufsichtspersonen und sogar von Polizisten begleitet. (…) Der Gerichtshof folgert daraus, dass die Zwangsmittel im vorliegenden Fall, die darin bestanden, gleichzeitig gefesselt und in Handschellen gelegt zu werden, im Hinblick auf die Sicherheitsbedürfnisse unverhältnismäßig waren (…). Diese Einschätzung wird durch die Tatsache verstärkt, dass diese Maßnahmen mit der ständigen Anwesenheit von Aufsehern oder Polizisten bei medizinischen Untersuchungen kombiniert wurden, von denen einige einen intimen Charakter aufwiesen. (…) Einschränkungen und Überwachungen dieser Art können bei dem Antragsteller ein Gefühl der Willkür, Minderwertigkeit und Angst hervorrufen. Dies führte zu einem Grad an Erniedrigung, der über das Unvermeidliche hinausging. (…) Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass die dem Kläger auferlegten Sicherheitsmaßnahmen während der medizinischen Untersuchungen in Kombination mit der Anwesenheit von Gefängnispersonal eine Behandlung darstellen, die über die Schwelle hinausgehen, die Artikel 3 der Konvention toleriert, und eine erniedrigende Behandlung im Sinne dieser Bestimmung darstellen. Daher lag ein Verstoß gegen diese Bestimmung vor.“
„Eine Fesselung (…) muss (…) auf Grund der (…) Gefahr „unbedingt“ erforderlich sein.“
Hier sollte beachtet werden, dass es bei diesem Urteil um einen konkreten Gefangenen und seine Gefährdungsprognose ging, nicht um eine allgemeine Regelung. Vor dem Hintergrund dieser Gefährdungsprognose hielt der EGMR die Maßnahmen für überschießend. Die österreichische Praxis aber (in ihrer alten wie auch in der neuen verschärften Form) gilt für alle Gefangenen. Dies widerspricht § 103 des Strafvollzugsgesetzes, auf den sich die aktuellen Erlässe zur Fesselung am Rücken berufen:
- „Gegen Strafgefangene, bei denen Fluchtgefahr, die Gefahr von Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen oder die Gefahr eines Selbstmordes oder der Selbstbeschädigung besteht oder von denen sonst eine beträchtliche Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung ausgeht, sind die erforderlichen besonderen Sicherheitsmaßnahmen anzuordnen.“ (…)
- Besondere Sicherheitsmaßnahmen sind aufrechtzuerhalten, soweit und solange dies das Ausmaß und der Fortbestand der Gefahr, die zu ihrer Anordnung geführt hat, unbedingt erfordern.
Der Verwaltungsgerichtshof hat dazu eindeutig entschieden: „Eine Fesselung lässt das Gesetz nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes (…) auch bei Ausführungen und Überstellungen nur zu, wenn die Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 StVG erfüllt sind. Die Maßnahme muss, wie aus § 103 Abs. 5 StVG abzuleiten ist, auf Grund der zu ihrer Anordnung führenden Gefahr „unbedingt“ erforderlich sein.“[4]
Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) hielt nach seinem letzten Besuch in österreichischen Strafvollzugsanstalten im Jahr 2021 kritisch fest: „Folglich sollten medizinische Untersuchungen von Häftlingen außer Hörweite und – sofern der betreffende Arzt/die betreffende Ärztin in einem bestimmten Fall nicht ausdrücklich etwas anderes verlangt – außer Sichtweite von nichtmedizinischem Personal durchgeführt werden. Nach Erfahrung des CPT ist die systematische Anwesenheit von nichtmedizinischem Personal bei medizinischen Untersuchungen dem Aufbau einer angemessenen Arzt-Patienten-Beziehung abträglich und gewöhnlich unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit unnötig.“[5] Die Vertraulichkeit der Beziehung zwischen ÄrztInnen und PatientInnen ist des Weiteren in den Nelson Mandela- Rules festgelegt[6] und wurde etwa auch vom Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte bestätigt[7].
Und trotzdem werden Gefangene in Österreich um ihr Recht auf vertrauliche ärztliche Beratung gebracht und bei der Ausführung in aller Öffentlichkeit gedemütigt. Seit Jahren. Und nun noch einmal verschärft aufgrund eines Erlasses des Justizministeriums. Ein Erlass, so lehrt uns eine einschlägige Webseite ist „eine interne Anweisung für die Verwaltung“, die vorgibt „wie die Verwaltungsbehörden (…) ein Gesetz oder eine Verordnung konkret anwenden sollen. (…) (M)it einem Erlass (darf) nur das näher bestimmt werden (…), was schon in einem Gesetz oder einer Verordnung steht. Ein Erlass kann nie weitergehen und mit ihm können auch keine neuen Vorschriften geschaffen werden.“[8]
Noch ein Rechtsbruch also, diesmal in Bezug auf das Verfahren. Doch wen interessiert es? Der richtige Umgang mit der Rechtsordnung fand während der Covid-Pandemie ein gewisses Interesse, als er sehr viele anging. Rechtsbrüche im Gefängnis hingegen sind ebenso alltäglich wie unsichtbar. Sie sind Teil der Symbolpolitik von Strafe und Abschreckung, einer Symbolpolitik, deren Menschenopfer die Gefangenen sind[9].
[1] https://www.diepresse.com/17857753/ministerium-verschaerft-sicherheitsmassnahmen-nach-erneuter-flucht-eines-haeftlings
[2] https://www.justiz.gv.at/file/2c92fd157e7d3f68017f2ab489c16e63.de.0/strafvollzugsbroschuere_2020_download.pdf?forcedownload=true, 8
[3] Duval c. France, http://hudoc.echr.coe.int/eng/#{%22itemid%22:[%22001-104896%22]}
[4] https://www.ris.bka.gv.at/JudikaturRechtssaetze.wxe?Abfrage=Vwgh&Dokumentnummer=JWT_1999200105_20010531X00
[5] https://rm.coe.int/1680abc16b, S.48
[6] https://rm.coe.int/1680abc16b, Rule 32 (c), S. 32
[7] https://skmr.ch/assets/publications/SKMR_Polizei_und_Justiz_DE.pdf, S.22
[8] https://unsereverfassung.at/was-ist-ein-erlass-was-ist-eine-verordnung-ein-gesetz/
[9] Steinert, Heinz (1988): „‘Sicherlich ist Zweifel am Sinn von Strafe, von Freiheitsstrafe erlaubt‘. Über Abolitionismus als intellektuelle Praxis“, in: Schuhmann, Karl, Steinert, Heinz und Voss, Michael (Hrsg.): Vom Ende des Strafvollzugs, Leitfaden für Abolitionisten, Bielefeld: AJZ, S. 1-15, hier S.5.
Danke für den interessanten Artikel.
Leider kann ich den im Artikel genannten Erlass des BMJ über die Ausführungen im RIS und auch sonst nicht finden. Gibt es dazu einen Link oder eine Geschäftszahl? Danke