Anlässlich zu seinem neuen Buch zum Fall Jack Unterweger führten wir ein Interview mit Hofrat Ernst Geiger.
Ernst Geiger (* Mai 1954 in Wiener Neustadt) war Angehöriger des Höheren Dienstes (Polizeijurist) der Bundespolizeidirektion Wien und arbeitete dort u. a. als Leiter der kriminalpolizeilichen Abteilung. Zuletzt war Geiger im Bundeskriminalamt Leiter der Abteilung 3, zuständig für Ermittlungen, Organisierte und Allgemeine Kriminalität. Mit Ende des Jahres 2017 ging er in Pension.
Hofrat Geiger, Sie sind bis Ende 2017 bei der Polizei gewesen. Sie haben vier Bücher geschrieben. Drei Bücher über bemerkenswerte Kriminalfälle und ein Sachbuch. Wie sind Sie denn zum Schreiben gekommen? Gab es da einen bestimmten Anlass ?
Mein erstes Buch habe ich mit dem Profiljournalisten Pauli Yvon 2005 geschrieben. „Es gibt durchaus noch schöne Morde: Die spannendsten und skurrilsten Kriminalfälle der letzten 25 Jahre“ hieß das Buch. Und da war ich Co-Autor. Es war die Sicht auf Kriminalfälle von kritischen Profiljournalisten und dem Kriminalpolizisten. Wir waren aber oft im Clinch, dann haben wir uns aber angenähert und haben ein Buch gemeinsam geschrieben.
Und weshalb begannen Sie dann mit den eigenen Büchern im Ruhestand?
Ich hatte da mehr Zeit und wollte vor allem alte Fälle, die mich besonders berührt haben, aufarbeiten. Ich hätte nicht die Fantasie gehabt Kriminalromane zu schreiben. Aber ich habe sehr viel erlebt und das wollte ich aufarbeiten. Und ich habe ein großes Archiv besessen, ich habe alle meine Fälle gesammelt. Früher gab es viel mehr Presseberichterstattung. Das Buch über die Berggasse in der Nazizeit hat mich persönlich interessiert. Ich wollte wissen, wie haben meine Amtsvorvorgänger damals gehandelt? Wer ist zum Täter geworden? Wer waren die Opfer? Wer waren die Mitläufer? Und ich war dort in verschiedenen Funktionen. Ich bin auch in diesen Räumen gesessen, in der Berggasse, das hat sich nicht geändert. Die Gebäude überdauern die Menschen. Und da findet man im Internet und auch in der Literatur überhaupt nichts dazu.
Bisher haben Sie über die Favoritner Frauenmorde, den Raub der Saliera und jetzt über Jack Unterweger geschrieben? Sind das jene Fälle, die Sie besonders interessiert haben?
Das sind die, die mich besonders intensiv beschäftigt haben. Die mir auch besonders nahe gegangen sind, bei denen ich sehr viel persönlich einbringen musste. Ich habe ja nicht alle Fälle persönlich gemacht. Ich war zwölf Jahre Leiter der Mordkommission und wir haben in Wien ungefähr in dieser Zeit vierzig bis fünfzig Tötungsdelikte jährlich gehabt. Und die konnte ich natürlich nicht alle selbst machen. Aber die, wo ich mich persönlich eingebracht habe und die mir eben sehr nahe gegangen sind, die habe ich gemacht.
Am Fall des Jack Unterweger haben sich ja schon einige Autoren und Autorinnen abgearbeitet. Was macht seinen Fall denn aus Ihrem Blickwinkel aus so besonders?
Jack Unterweger ist meiner Meinung nach in der ganzen Kriminalgeschichte ein einzigartiger Fall und eine einzigartige Persönlichkeit. Also er hat das geschafft, was keiner geschafft hat: sich aus dem Gefängnis freizuschreiben und dann ein paradiesisches Leben zu führen. Wie er das geschafft hat in kurzer Zeit Anerkennung zu finden. Als Mensch, als Literat, große Menge von Frauen um sich schart und eine große Anhängerschaft. Da glaubt man ja, er hat alles erreicht. Warum sollte so ein Mensch dann wieder morden oder überhaupt straffällig werden? Das ist die Besonderheit an diesem Fall. Und dann auch die Komplexität der Ermittlungen, weil er von sehr vielen Leuten geschützt wurde, die einfach nicht geglaubt haben, dass das passieren konnte. Ich war am Anfang auch nicht überzeugt, dass er der Täter ist. Die Art, wie er reagiert hat, wie er sich verteidigt hat, bis zum Schluss, wie er die Medien beeinflussen konnte, das war schon einzigartig. Das hat kein zweiter in einer ähnlichen Weise geschafft.
Glauben Sie, ist jetzt dieser Fall so spektakulär geworden, weil er in Österreich stattgefunden hat? Wäre jetzt derselbe Fall in den USA gewesen, wo es ja eine Vielzahl von Serienmördern gibt, die auch spektakulär sind, würde er dort mehr oder weniger untergehen? Oder ist er wirklich so einzigartig in der Weltkriminalgeschichte?
Ich habe mit John Douglas, Bob Ressler und Greg McCrairy, die amerikanische Serienmörder untersucht haben, und die Amerikaner haben wirklich sehr viele Serienmörder, gesprochen und sogar für die war Jack Unterweger herausragend. Der ist nur vergleichbar mit Ted Bundy, der ähnlich manipulativ war und der auch die Öffentlichkeit für sich einnehmen konnte. Bundy haben sie noch höher eingestuft, weil seine Opfer nicht Prostituierte, sondern junge Mädchen waren, Studentinnen.
Eine allgemeine Frage: glauben Sie, weil immer wieder der Ruf nach strengeren Strafen kommt, wenn spektakuläre und medial aufregende Fälle vorfallen, dass strengere Strafen Verbrechen auch verhindern können, oder ist das nur Showpolitik?
Nein, ich glaube, der Strafrahmen reicht bei den Delikten im Wesentlichen aus. Im Gegenteil, das führt nur zu einer Verschiebung und Straferhöhungen im Anlassfall stören die Ausgewogenheit der Strafrahmen. Und eine Erhöhung der Strafrahmen schreckt sicher keinen ab. Wenn der Täter von einer hohen Wahrscheinlichkeit ausgeht, erwischt zu werden, kann es nutzen. Aber im Endeffekt kann man nicht alles verhindern.
Wird aus Ihrer Sicht in Österreich in der Verbrechensprävention genug getan ?
Spielraum nach oben gibt es immer. Es kommt dann darauf an das Richtige zu tun. Und das ist nicht mehr so einfach. Die Persönlichkeiten sind verschieden. Man kann nicht sagen, dass man jeden mit irgendeinem Antigewalt-Training erreichen kann. Oder mit einem Training, das nach einem gewissen Muster abläuft. Ich glaube, man müsste viel mehr auf die Täterpersönlichkeiten eingehen und sich anschauen, was sie antreibt, was sie bewegt. Die Wahrheit sagen sie eigentlich nur im Tatort.
Sie haben sehr lange bei der Polizei gearbeitet. Wie hat sich denn das Verbrechen gewandelt?
Das Verbrechen ist genauso in einem Fluss begriffen wie überhaupt die Gesellschaft, die Zusammensetzung der Gesellschaft, die Demografie, das hängt von vielen Dingen ab. Es ist nicht alles schlechter geworden und es ist nicht alles besser geworden. Das Verbrechen ist auch ein Spiegelbild der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Umstände. Wenn ich so zurückblicke, wie ich es bei der Polizei begonnen habe, da war Österreich in einer ganz anderen Lage. Da hatten wir knapp sieben Millionen Einwohner. Wir waren umgeben vom eisernen Vorhang von Grenzen und die Kriminalität war eine Hausgemachte. Es gab österreichische Einbrecher und es gab österreichische Huren, sonst nichts. Und die Morde waren nicht weniger damals. Es gab damals in Wien in den 70er, 80er bis in den 90er Jahre so ungefähr vierzig bis fünfzig vollendete Tötungsdelikte jährlich. Und damals gab es eben noch kein Gewaltschutzgesetz, keine Präventiveinrichtungen. Einsperren oder Anzeige auf freiem Fuß gab es. Dann 1989: die Zäsur, der Fall des Eisernen Vorhangs, dann kam die Welle aus den Nachbarstaaten, beispielsweise die ungarischen Ladendiebe auf der Mariahilfer Straße, wir waren damit überfordert. Dann gab es damals eine ausufernde Bankräuber-Kriminalität. Also Banküberfall war das Delikt, bei dem die Kriminellen zu schnellem Geld gekommen sind, aber bei dem sich Amateure genauso versucht haben. Da gab es Überfälle mit Schießereien, die Schabelbrüder, damals am Rudolfsplatz, da sind 150 Schuss gefallen. Es gab Profitäter mit Geldtransportüberfällen, Banküberfällen und vieles mehr. Das ging so weit, dass die Banken von Sicherheitswachebeamten und zivilen Polizisten bewacht wurden . Das waren wilde Geschichten, die heute alle nicht mehr vorkommen. Heute ist der Banküberfall ausgestorben, es gibt keine Bankfilialen mehr und die, die es gibt, haben kein Geld und auch keine Ansprechpartner für Kunden. Manche Delikte erledigen sich von selbst. Dazu ist jetzt die Cyber-Kriminalität gekommen. Aber die Grundantriebsarten, warum jemand Verbrechen begeht, bleiben natürlich im Wesentlichen die gleichen .
Auch die Ermittlungsmethoden haben sich natürlich gewandelt?
Zu Beginn hatten wir sehr, sehr wenig Möglichkeiten. Das sieht man deutlich in dem Buch „Heimweg“ über die Favoritner Mädchenmorde. Da gab es gar nichts, keine DNA, keine Kommunikationstechnologie, nichts. Fingerabdrücke haben wir im Freien selten gefunden, Fingerabdrücke waren das Einzige, aber sonst war eben nichts.
Hat sich die Verbrecher-Typologie verändert?
Ja, die Typologie hat sich verändert und natürlich auch die Nationalitäten. Es gibt eigentlich keinen österreichischen Einbrecher und keine österreichischen Prostituierte mehr. Null! Man findet aber auch keine österreichischen Handwerker mehr.
Wie wichtig ist denn Resozialisierung im Gefängnis? Sie werden sich ja öfters gedacht haben, wenn Sie jemanden verhaften, werde ich den sehr bald wiedersehen.
Die Resozialisierung ist so eine Sache. Es hängt davon ab, ob jemand überhaupt jemals sozialisiert war. Ich glaube, man kann nur den resozialisieren, der irgendwann sozialisiert war und dann rausgefallen ist. War einer nie sozialisiert, dann kann man nicht resozialisieren, dann kann man bestenfalls im Gefängnis sozialisieren. Und das ist natürlich ein sehr, sehr schwerer Weg. Das kann gelingen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, aber es kommt immer darauf an, welche Ansprüche jemand ans Leben hat. Bei den Eigentumstätern ist es meist so, wenn sie älter werden, werden sie auch bescheidener. Und auch Langzeithäftlinge, die lange Zeit sitzen, wenn sie rauskommen und dann Sozialhilfe bekommen und eine Wohnung bekommen, dann sind sie durchaus mit dem zufrieden. Aber solange jemand schwer kriminell war, und den Hunger nach dem schnellen Geld hat, wird man den nicht so leicht sozialisieren können. Und bei den Gewaltverbrechern, ist es so, dass wenn der Anlass weggefallen ist und es ein Verbrechen mit Motiv war, wird der selten straffällig werden. Wenn der die Strafwirkung verspürt hat, gesehen hat, es geht nicht so weiter, dann wird er wahrscheinlich aufhören. Wenn jemand aber motivlose Verbrechen verübt oder Verbrechen wie der Jack Unterweger oder der Karl Otto Haas beispielsweise, die kann man nie rauslassen, die muss man drin lassen.
Wird die Resozialisierung dann in Freiheit nicht wieder sehr behindert? Zum Beispiel wird manchen der Führerschein entzogen, Selbstständigkeit ist nicht mehr möglich, viele Arbeitgeber verlangen ein Leumundszeugnis und nicht einmal Arbeitgeber, die eine Vorbildwirkung hätten, wie zum Beispiel die Stadt Wien, nehmen Vorbestrafte. Also das ist dann schon eine große Hürde, wieder Teil der Gesellschaft zu werden?
Leichter wird es sicherlich nicht, wenn man vorbestraft ist, das ist ganz klar. Aber man muss halt abwägen: Vorbestrafte nehmen oder nicht nehmen? Wenn jemand im Eigentumsbereich vorbestraft ist, wird es auch Bereiche geben, wo die Gelegenheit sehr groß ist, und man den eher nicht nimmt. Das ist immer eine Güterabwägung zwischen den einzelnen Interessen und dem Schutz der Allgemeinheit.
Hätte es bei Jack Unterweger einen Punkt gegeben, nach seiner Entlassung, an dem das gekippt ist? Also sozusagen: hätte er noch irgendwas von der Gesellschaft bekommen können, damit er nicht straffällig wird?
Ich glaube, er hat alles gehabt. Viel mehr kann es nicht mehr geben. Er hatte eine Frau, er hatte eine 150 Quadratmeter Wohnung in der Florianigasse. Die Frau hat die Miete bezahlt und ihm einen Ford Mustang gekauft. Sie hat ihm auch immer Taschengeld gegeben. Er hat von der Havlicek, damals Unterrichtsministerin, 100.000 Schilling Subventionen bekommen. Also er hat Geld gehabt. Er musste nicht irgendeine körperliche Arbeit oder irgendeine sonstige Arbeit verrichten. Er hat Bewährungshilfe gehabt, den hat er immer am Schmäh gehalten, den wollte er nicht. Also ich weiß nicht, was man da anders machen soll. Und er hatte Frauen gehabt, genug, er brauchte nicht zu Prostituierten gehen.
Es gab vor ein paar Jahre den Ruf danach die Todesstrafe wieder einzuführen, das hört man immer wieder bei besonderen Verbrechen wie für Auftragskiller. Aber während Ihrer ganzen Dienstzeit ist da ein Auftragskillermord auch vorgekommen?
Es gab einen Handgranatenanschlag in die Innenstadt, da hat eine Frau jemanden beauftragt, ihren Mann auszuschalten und da hat er eine Handgranate gezündet. Manchmal sind auch Frauen die Anstifter. Ein Fall aus meiner Erinnerung, den kann man auch Auftragsmord nennen, eine Bar-Dame vom Gentlemans Club, hat einen alten Postamtsdirektor kennengelernt. Und der hat sich in sie unsterblich verliebt. Er war zwar verheiratet, aber er hat seine ganzen Ersparnisse in sie investiert. Und da hat sie dann auch einen zweiten kennengelernt, das war ein Förster, ein sehr handwerklich geschickter, und der hat dann das Lokal einrichten dürfen, der war auch verheiratet. Die beiden Männer, waren sexuell so fasziniert von ihr, dass die alles für sie getan haben. Nur der Postdirektor hat dann gemerkt, dass der andere irgendwie mehr sticht als er. Sein Geld ist zur Neige gegangen, er wollte dann was zurückhaben. Dann hat sie den Förster angestiftet, er solle ihn umbringen. Der Förster wäre nie straffällig geworden, der war völlig unbescholten und hat ein ordentliches Leben bis dato geführt. Und der hat es dann tatsächlich unter ihrem Einfluss gemacht, hat ihn dann noch zerstückelt und die Leichenteile den Wildschweinen vorgeworfen. Nur leider Gottes sind die Wildschweine an dem Tag nicht gekommen und ein Wanderer hat die Leiche gefunden.
Und weil es noch immer Theorien dazu gibt, es ist auffallend, dass sich einerseits Jack Unterweger in der Zelle selbst umgebracht hat und der Franz Fuchs ebenso. Da wird immer wieder überlegt, ob sie das auch selbst gemacht haben. Glauben sie daran könnte was dran sein?
Man kann einen Suizid im Gefängnis nie verhindern. Da müsste man rund um die Uhr videoüberwachen und da müsste ständig jemand vor der Videoanlage sitzen. Das geht ja gar nicht. Aber jemand umbringen im Gefängnis, so eine Verschwörung, da müsste es ja einen Auftraggeber geben. Das könnte ich sein oder der vorsitzende Richter oder irgendein Weltverbesserer. Dann müsste die Justizwache entsprechend instrumentalisiert sein, dass richtig Personal dafür ausgewählt werden. Dann müssten auch die Gerichtsmediziner die das untersuchen, und die Polizei eingeweiht werden. Also das halte ich für abstrus. Man kann sich immer in Einzelheiten verbeißen, aber wenn man dann das Gesamte betrachtet, dann bleibt nicht allzu viel über.
Jetzt sind wir schon gespannt zu hören: an welchem Buch arbeiten Sie jetzt?
Jetzt möchte ich nichts mehr schreiben. Ich sage niemals nie, aber ich habe jetzt mal sehr intensive Jahre, die mit sehr viel Arbeit verbunden waren, gehabt. Und jetzt möchte ich etwas anderes machen. Ich halte noch sehr viele Vorträge und sehr viele andere Projekte. Auf Null komme ich nie.
Vielen Dank für das interessante Gespräch!
Ernst Geiger
Mordsmann – Nach wahren Begebenheiten
Verlag edition a, 2024
Gebundene Ausgabe: 368 Seiten
ISBN: 978-3-99001-718-0
20,00 €
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