Eine Analyse des renommierten Psychiaters Pius Prosenz zeigt gravierende Mängel bei Qualität, Transparenz und Wissenschaftlichkeit – und die dringende Notwendigkeit einer Reform.
Seit Jahren steht der Maßnahmenvollzug in Österreich unter Beobachtung. Das System, das die Einweisung und Entlassung psychisch gestörter Straftäter regelt, wurde wiederholt wegen seiner intransparenten und teilweise inhumanen Praxis kritisiert. Eine neue Analyse von 201 forensisch-psychiatrischen Gutachten aus den Jahren 2013 bis 2023 zeigt, dass sich an der grundlegenden Problematik wenig geändert hat. Die Mängel aus der vielbeachteten „Ulmer Studie“ von 2011 sind weiterhin in alarmierendem Ausmaß präsent.
Die zentrale Rolle dieser Gutachten kann nicht überschätzt werden: Sie entscheiden über Einweisungen in den Maßnahmenvollzug, einen Freiheitsentzug, der oft viele Jahre dauert. Dennoch bleiben die wissenschaftliche Fundierung und die Transparenz der Gutachten weit hinter den Erwartungen zurück.
Unzureichende Transparenz und mangelnde Wissenschaftlichkeit
Eines der gravierendsten Probleme ist die fehlende Nachvollziehbarkeit der getroffenen Entscheidungen. In etwa 80 Prozent der analysierten Gutachten fehlen schlüssige Begründungen für die wesentlichen Bewertungen. Statt einer klaren Argumentation basieren die Urteile häufig auf apodiktischen Aussagen – kurzen, kaum nachvollziehbaren Einschätzungen, die weder logisch hergeleitet noch überprüfbar sind.
Die wissenschaftliche Fundierung dieser Gutachten ist ebenso alarmierend schwach. Nur ein kleiner Teil enthält Bezüge zur aktuellen Forschung, und die Verwendung von diagnostischen und prognostischen Instrumenten wie PCL-R oder VRAG bleibt sporadisch. Selbst wenn solche Instrumente eingesetzt werden, fließen deren Ergebnisse oft nicht in die finale Einschätzung ein. Diese Lücken schaffen Raum für Fehleinschätzungen, deren Konsequenzen gravierend sein können: falsche Einweisungen, unnötige Verlängerungen der Unterbringung oder unbegründete Entlassungsverweigerungen.
Einseitigkeit und fehlendes Verständnis für Individualität
Die Analyse zeigt auch, dass viele Gutachten fast ausschließlich strafrechtsnormativ orientiert sind. Statt psychiatrische Begriffe und Konzepte zu nutzen, übernehmen sie die Sprache und Denkmuster des Strafrechts. Dies führt zu einer starken Fokussierung auf die Delikte und einer Vernachlässigung der individuellen und situativen Faktoren, die zu den Taten führten. Die Deliktanalyse ist in drei Vierteln der untersuchten Fälle mangelhaft.
Besonders problematisch ist, dass psychiatrische Diagnosen oft nicht vollständig oder korrekt gestellt werden. Schizoaffektive Psychosen, die häufig mit einem hohen Risiko für gefährliche Verhaltensweisen verbunden sind, werden regelmäßig übersehen. Gleichzeitig wird bei anderen Diagnosen wie Persönlichkeitsstörungen häufig pauschal auf eine hohe Gefährlichkeit geschlossen – ein Ansatz, der nicht nur wissenschaftlich fragwürdig, sondern auch ethisch problematisch ist.
Überfüllung und fehlende Alternativen
Die Ergebnisse der Gutachten führen zu einer erschreckend hohen Zahl von Einweisungen in den stationären Maßnahmenvollzug. Fast 87 Prozent der Einweisungsgutachten empfehlen eine stationäre Unterbringung, während nur etwa 14 Prozent eine ambulante Behandlung in Betracht ziehen. Bei Entlassungsgutachten zeigt sich ein ähnliches Bild: Über 79 Prozent der Gutachten sprechen sich gegen eine bedingte Entlassung aus, selbst nach Jahren der Therapie.
Die Praxis der Gutachter verstärkt diesen Trend. Häufig wird auf bestehende Gutachten oder Stellungnahmen aus Justizanstalten zurückgegriffen, ohne die aktuellen Umstände oder Fortschritte des Probanden ausreichend zu berücksichtigen. In vielen Fällen werden Veränderungen im Verhalten oder im psychischen Zustand der Probanden schlichtweg ignoriert. Dies führt nicht nur zu einem Vertrauensverlust bei den Betroffenen, sondern auch zu einer unnötigen Belastung des Systems.
Die Angst der Gutachter und ihre Folgen
Ein weiteres Problem ist die Angst der Gutachter vor möglichen Konsequenzen. Sie fürchten, für Rückfälle nach einer positiven Prognose verantwortlich gemacht zu werden. Diese Unsicherheit führt dazu, dass viele Gutachten vorsichtige, aber letztlich zu harten Einschätzungen abgeben. Die Konsequenzen tragen die Probanden, die oft über Jahre hinweg inhaftiert bleiben, ohne dass ihnen eine echte Chance auf Resozialisierung gegeben wird.
Reformbedarf und Lösungsansätze
Die Analyse zeigt eindrücklich, dass es einer umfassenden Reform des Systems bedarf. Die Einführung einer Lehrkanzel für forensische Psychiatrie könnte dazu beitragen, die Qualität der Gutachten zu verbessern und junge Fachkräfte auszubilden, die humanistische Werte mit einer wissenschaftlich fundierten Arbeitsweise verbinden.
Auch die Einführung verbindlicher Mindeststandards für die Erstellung von Gutachten ist dringend notwendig. Diese Standards sollten klare Vorgaben für die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Gutachten enthalten. Zudem muss die Anwendung wissenschaftlicher Methoden und Instrumente verpflichtend werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Gutachten eine fundierte Basis für gerichtliche Entscheidungen bieten.
Ein System am Scheideweg
Die Ergebnisse dieser Studie sind ein deutlicher Weckruf. Sie zeigen, dass die Probleme, die bereits vor über einem Jahrzehnt identifiziert wurden, nach wie vor bestehen. Wenn der Maßnahmenvollzug weiterhin als Instrument des Strafrechts missverstanden wird, droht das Vertrauen in die forensisch-psychiatrische Begutachtung nachhaltig zu erodieren.
Die Zeit für Reformen ist längst überfällig. Es geht nicht nur darum, die wissenschaftliche Qualität und Transparenz der Gutachten zu verbessern, sondern auch darum, den betroffenen Menschen Würde und Gerechtigkeit zurückzugeben. Ein humanes und gerechtes System, das auf Wissenschaft und Empathie basiert, ist nicht nur möglich – es ist notwendig.
Die Studie wird in der 2. Auflage des Buchs „Maßnahmenvollzug. Menschenrechte – Weggesperrt und Zwangsbehandelt“ im Frühjahr 2025 in der Edition Blickpunkte erscheinen.