Berichte des deutschen Senders ARD über Missstände in der forensischen Psychiatrie Hamburg-Ochsenzoll werfen ein Schlaglicht auf ähnliche Probleme im österreichischen Maßnahmenvollzug.
Die forensische Psychiatrie soll ein Ort sein, an dem psychisch kranke Straftäter Behandlung und Betreuung erfahren, um sie eines Tages wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Doch Berichte über menschenunwürdige Zustände, fragwürdige Therapien und fehlende Perspektiven lassen daran zweifeln, ob dieses Ziel erreicht wird. Im Fokus steht aktuell die forensische Psychiatrie Hamburg-Ochsenzoll, die von Angehörigen und Gutachtern scharf kritisiert wird.
Christoph Miebach, ein Patient der Einrichtung, war gerade einmal 17 Jahre alt, als er aufgrund einer diagnostizierten Schizophrenie eingewiesen wurde. In manischen Phasen hatte er Pflegekräfte angegriffen, woraufhin die Zwangsunterbringung folgte. Sechs Jahre später ist aus dem jungen Mann mit Zukunftsperspektiven ein lethargischer Patient geworden, der unter massivem Medikamenteneinsatz leidet. Laut Berichten seiner Mutter ist er mittlerweile kaum ansprechbar, zeigt motorische Einschränkungen und hat erheblich an Gewicht zugenommen. „Er wurde mir als fröhlicher Junge entrissen und zurückgegeben als jemand, der kaum noch existiert“, sagt sie verzweifelt.
Die Klinik selbst weist die Vorwürfe zurück und betont, dass die Behandlung nach medizinischen Leitlinien erfolge. Doch Experten sehen gerade darin ein Problem: Ein zu starrer Fokus auf pharmakologische Behandlungen, kombiniert mit einem Mangel an psychotherapeutischen Ansätzen, führe häufig dazu, dass Patienten dauerhaft sediert, aber nicht geheilt werden.
Parallelen zum österreichischen Maßnahmenvollzug
Die Situation in Deutschland spiegelt sich auch in Österreich wider. Hier steht der sogenannte Maßnahmenvollzug für zurechnungsunfähige Straftäter seit Jahren in der Kritik. Der Maßnahmenvollzug betrifft Personen, die aufgrund schwerer psychischer Erkrankungen als nicht schuldfähig gelten und unter verschärften Bedingungen untergebracht sind. In beiden Fällen bleibt das Ziel einer Resozialisierung oft auf der Strecke.
Aktuelle Statistiken zeigen, dass die Zahl der Insassen in österreichischen forensischen Einrichtungen stark zugenommen hat. Laut Berichten stieg die Anzahl von Untergebrachten im Maßnahmenvollzug zwischen 2010 und 2020 um rund 60 %. Dabei handelt es sich nicht nur um schwere Fälle: Bis zu 30 % der Insassen könnten laut Experten in weniger restriktiven Einrichtungen betreut werden. Dennoch verbleiben sie oft jahrelang in einer Umgebung, die Rehabilitation erschwert, statt sie zu fördern.
Eine 2023 veröffentlichte Untersuchung ergab, dass 90 % der Insassen mindestens eine schwere psychiatrische Erkrankung aufweisen, während 60 % an multiplen Diagnosen leiden. Trotzdem fehlt es vielerorts an speziell ausgebildetem Personal und individualisierten Therapieangeboten. Stattdessen dominieren Übermedikation und Verwahrung. „Der Maßnahmenvollzug in Österreich ist eine Sackgasse“, resümiert ein führender Psychiater. Besonders kritisch sei auch die Praxis, dass viele Untergebrachte ohne klare Perspektive auf eine Entlassung bleiben, was den therapeutischen Prozess zusätzlich behindere.
Forderung nach Reformen
Die Kritik an den Systemen in Deutschland und Österreich ist nicht neu, doch die Berichte aus Hamburg und die alarmierenden Zahlen aus Österreich werfen erneut die Frage auf: Was muss sich ändern? Experten fordern umfassende Reformen in der forensischen Psychiatrie. Im Zentrum stehen dabei:
- Mehr Personal und bessere Ausbildung: Spezialisierte Fachkräfte, die auf die Bedürfnisse psychisch kranker Straftäter eingehen können, sind unerlässlich.
- Weniger Fixierung auf Medikamente: Psychotherapie und rehabilitative Maßnahmen müssen stärker in den Fokus rücken.
- Klare Perspektiven für Insassen: Transparente Übergangsregelungen und Resozialisierungsprogramme könnten dazu beitragen, die Aufenthaltsdauer zu verkürzen.
- Regelmäßige externe Prüfungen: Eine unabhängige Kontrolle der Einrichtungen könnte Missstände frühzeitig aufdecken und beheben.
Für die Betroffenen wie Christoph Miebach und tausende andere Patienten bleibt die Hoffnung, dass ihre Schicksale nicht länger von einem System geprägt werden, das ihre Menschenwürde gefährdet. In einem Klima zunehmender Kritik könnte die öffentliche Aufmerksamkeit ein entscheidender Hebel für Veränderungen sein. Doch die Zeit drängt: Jeder weitere Tag in den bestehenden Strukturen zementiert das Leid der Betroffenen – in Hamburg, Österreich und darüber hinaus.
Den TV-Beitrag des ARD finden Sie hier: https://www.ardmediathek.de/video/panorama-3/menschenunwuerdig-forensik-ochsenzoll-in-der-kritik/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS83YjBkYTVjNy1hODIyLTQzNzUtYjU2Zi02NThiMDRkZDdhNDY
Großartiger Bericht – Danke.
Als ich den ARD Beitrag und den weinenden Vater sah, kamen mir selbst die Tränen, wie ist es möglich einen jungen heranwachsenen Menschen der in der Entwicklung nicht mal fertig abgeschlossen hat, derartig unter „medizinischer“ Aufsicht verwahrlosen zu lassen? Die Mutter berichtete von massiver Gewichtzunahme, Zahn verlusten, Haut defekten, ein erschreckendes Bild an Elend muss es für Angehörige sein.
Ich bin mir sehr sicher, es sind nur wenige Spitzen die immer wieder in den Medien landen, die wahre Dunkelziffer aber ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weit höher als wir uns es vorstellen können.
In Österreich kontrolliert die Volksanwaltschaft derartige Anstalten, aber ist diese Behörde unabhängig genug um Verbesserungen durchzusetzen?