Wie Unwissenheit, Bürokratie und gesetzliche Hürden eine schreckliche Tragödie ermöglichten und was wir daraus lernen müssen.

An einem wunderschönen Weihnachtsnachmittag, an dem Eltern mit ihren Kindern, Großeltern mit ihren Enkeln am Weihnachtsmarkt in Magdeburg kleine Geschenke kaufen und die Stille und Ruhe dieses geschmückten Ortes genießen, drängt sich ein großer Pkw durch die Absperrungen und fährt mit Vollgas mitten in die Menschenmenge. Körper fliegen durch die Luft, Schreie übertönen die Weihnachtsmusik, Panik bricht aus, alles rennt und versucht sich zu retten, viel zu lange braucht es, bis der Pkw zum Stillstand kommt, Polizei den Fahrer herauszerrt und verhaftet. Viele Tote, Kinder, Eltern und Großeltern, und noch viel mehr Schwerverletzte bleiben vor der Kirche liegen.

Dieses Schreckensszenario am Weihnachtsmarkt von Magdeburg in den Vorweihnachtstagen 2024 lässt Angst, Entsetzen, Ratlosigkeit zurück, wie konnte so etwas passieren? Wer war schuld? Islamistischer Terror? Rechtsradikale Gangs? Lebt links- terroristische Gewalt in Deutschland wieder auf? Die Internetforen glühen vor Postings, jeder gibt seine Vermutungen kund, niemand aber kann das Geschehen erklären.

Fotos: Adobe Stock

Aber schon die ersten Meldungen hätten die geschulten Psychologen und Profiler von Polizei und Gericht auf die richtige Spur bringen müssen, die sich in den nächsten Tagen noch klarer darbot: der Täter war Polizei- und gerichtsbekannt, er hatte eine Unzahl von Anzeigen gemacht und Verfahren angestrengt, die alle zurückgelegt worden waren, er bezeichnete sich als der größte Feind des Islam in der Geschichte, er fühlte sich ständig verfolgt und bedroht von seinem Heimatstaat Saudi-Arabien, er zeigte einen unstoppbaren Redefluss, eine leicht erkennbar irreale Überaktivität, er bot somit für einen Wissenden  alle Zeichen einer Brandgefährlichkeit, und das über Jahre. Auch die Institution, wo der Täter als Psychotherapeut und/oder Psychiater arbeitete, hätte seit langem am auffälligen Verhalten des Täters seine Gefährlichkeit erkennen müssen, auch sie bzw. die KollegInnen des Täters haben versagt.

Es handelt sich nach den der Öffentlichkeit bisher zugänglichen Informationen um das Störbild einer schizoaffektiven Psychose, die zum Teil ihre Symptome aus dem schizophrenen Formenkreis, zum Teil ihre starken Veränderungen des Antriebs und der Stimmung aus dem bipolaren, dem manisch – depressiven Formenkreis bezieht. Aus dem schizophrenen Formenkreis stammen paranoide Wahnvorstellungen, Realitätsverzerrungen, irreale Szenarien der Wahrnehmung, seltener auch Halluzinationen. Aus dem bipolaren, manischen Formenkreis stammen pathologische Antriebssteigerung, Logorrhö (Dauerreden), Größen – bis Allmachtsideen, Sendungsbewusstsein, Missionsgedanken, Rettung der Menschheit, unkritischer bis irrealer Optimismus, fehlende Ermüdung. Man kann sich die Gefährlichkeit dieser psychischen Erkrankung vorstellen, wenn der Betroffene von überall her Verfolgung und Bedrohung zu erkennen glaubt und sich mit der gegebenen pathologischen Antriebssteigerung ohne Bremsmechanismen mit allen Mitteln zur Wehr setzen will! Der Tatmechanismus – Zusammenhang zwischen Migration, Verfolgung durch die saudi-arabischen Behörden und Tötung von Deutschen auf einem Weihnachts-markt, wie er sich in einem wirren Gehirn entwickelt hat – bedarf freilich noch der Aufklärung. Die schizoaffektive Psychose ist die weitaus gefährlichste Geistesstörung. In einer jüngst erstellten Studie an 200 Gerichtsfällen von Gewalttaten inklusive Tötungsdelikten zeigten rund 45 % der Täter Symptome einer schizoaffektiven Psychose!

Der Täter wurde von einem Journalisten-Team etwa ein Jahr vor der schrecklichen Tat vier Stunden lang interviewt. Der Journalist veröffentlichte nun nach der Tat geschockt seine Ergebnisse und Erlebnisse mit dem Täter: Sein Verhalten wird als massiv auffällig beschrieben und zeigte alle oben angeführten Symptome einer schizoaffektiven Psychose! Die Journalisten waren verwirrt und verunsichert und wussten nicht, was zu tun sei Der einzige richtige Weg – wenn die Journalisten das Wissen gehabt hätten oder jemanden, der das Wissen gehabt hätte, gefragt hätten – wäre gewesen, sofort Polizei und Amtsarzt von dieser gefährlichen Entwicklung zu verständigen und Letzterer hätte den Täter nach dem Unterbringungsgesetz mit einem Parere auf eine Psychiatrie einweisen können bzw.  müssen. Dort hätte man – wie üblich und wie es state oft the art ist – unter entsprechender Medikation dieses Störbild in zwei Wochen zum Abklingen gebracht und das Auftreten weiterer Schübe durch eine Dauermedikation verhindert. Die Schreckenstat wäre nie eingetreten und der Täterkollege würde jetzt noch seinem Beruf und seinem Leben nachgehen können.

Und doch müssen diese Überlegungen hypothetisch bleiben: Es ist leider nicht so, dass die Gefährlichkeit von schizoaffektiven Patienten allgemein bekannt ist, weder unter den Psychiatern noch den Amtsärzten noch bei Polizei und Gericht. Offensichtlich sind es nur gewisse forensische Psychiater, die Gerichtsfälle und Gutachten analysieren, die darauf sensibilisiert sind. Es gibt viele Fälle wie diesen, wo eindeutig schizoaffektive Menschen mit der Polizei und der Psychiatrie in Kontakt kommen, diese aber nicht richtig diagnostiziert und nicht auf den richtigen Weg gebracht werden. Oft kommt das spektakuläre finale Verbrechen nach leichteren Erstkontakten, wo schon alle Glocken Sturm läuten müssten, manchmal – wie hier – gibt es zunächst über längere Zeit nur auffallendes und störendes Verhalten, aber keine Verbrechen, eine sinnvolle Maßnahme wird daher hinausgezögert, aber dann ist es schon zu spät, für den Täter und für die Opfer. In der erwähnten Studie waren 45 % aller Täter mit psychischen Störungen schizoaffektive Psychosen! Die meisten von ihnen wurden als Persönlichkeitsstörungen fehldiagnostiziert und bekamen nicht die richtige Behandlung.

In den USA müssen solche Überlegungen viel seltener angestellt werden: Wie das zwei Tage nach dem Magdeburger Anschlag verübte praktisch idente Massaker in New Orleans mit noch mehr Toten und Schwerverletzten gezeigt hat, werden solche Täter in den USA gleich an Ort und Stelle erschossen. Dies trägt freilich auch nichts zur Verhinderung solcher Taten bei.

Aber auch wenn die Diagnose rechtzeitig gestellt und eine Aufnahme nach dem UbG (Unterbringungsgesetz) auf einer geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie durchgeführt worden wäre, bleiben noch eine Reihe von juristischen und psychiatrischen Problemen, die den an sich idealen und höchstwahrscheinlich zum Erfolg führenden Weg erschweren: Nach dem Unterbringungsgesetz aufgenommene psychiatrischer Patienten müssen akut selbst – oder allgemeingefährlich sein, um angehalten zu bleiben und eine Zwangsbehandlung angewandt werden kann, die Entscheidung darüber liegt bei Gerichtskommissionen. Erregungszustände bei schizoaffektiven Psychosen können aber nach einer ruhigstellenden Erstmedikation oder auch nur in der kalmierenden Atmosphäre eines Krankenhauses am nächsten Tag weder selbst- noch allgemeingefährlich wirken und werden dann ohne Behandlung einfach entlassen. Der Weg in den therapeutisch orientierten Maßnahmenvollzug ist auch nur nach einer entsprechenden schweren Anlasstat möglich, die möglicherweise knapp bevorsteht, aber eben noch nicht verübt wurde. Diese gesetzliche Situation ist unbefriedigend und schützt weder Täter noch Opfer rechtzeitig. Von einer Krankheitseinsichtigkeit und Therapiewilligkeit bei den Erkrankten auch nach entsprechender Aufklärung kann gerade hier leider nicht ausgegangen werden, eine Einsichtsfähigkeit und Kooperation gibt es leider bei der schizoaffektiven Psychose praktisch nie! Es könnte also sein, dass in der Abwägung zwischen der Unversehrtheit persönlicher Freiheit und dem Anspruch auf persönliche Sicherheit in der Öffentlichkeit solche Tragödien von der Gesellschaft hingenommen werden müssen, auch wenn der Wissende den Atem anhält und die Augen schließt!

Es ist deprimierend, solche Schreckenstaten mitzuerleben und zu wissen, dass sie leicht verhinderbar wären. Aber dass Unwissenheit, auch bei den ExpertInnen, und träger Bürokratismus unter dem Dirigat schwerfälliger Gesetze, ein rechtzeitiges Eingreifen sehr schwer macht bzw. verhindert.


Zum Hintergrund der Tat

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