Im September 2015 haben die Vereinten Nationen die Millenniums-Entwicklungsziele beschlossen. Danach sollen u.a. bis 2030 Armut und Hunger weltweit besiegt sein. Zur  Bekämpfung der Armut empfahl das Europäische Parlament im November 2020 den Mitgliedsstaaten der EU die Obdachlosigkeit bis 2030 zu beseitigen.

Heino Stöver wünschte sich in seinem Schlusswort am Ende der 13. Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft in Wien von der Politik ähnliche Zielvorgaben, z.B. die Zahl der Inhaftierten bis 2030 auf 50 von 100.000 zu senken. Im Jahr 2020 war die deutsche Gefangenenrate 69 von 100.000 Einwohnern.
Die Konferenz endete leider nicht mit einem Katalog von solchen Forderungen an die Regierungen von Deutschland, Luxemburg, Österreich und der Schweiz.

Ich habe wir gewünscht, dass am Anfang der Konferenz eine Einschätzung der politischen Situation gegeben wird, in der wir uns bemühen, die Gesundheitsstandards in den Gefängnissen zu verbessern. Gefangene mit internationaler Familiengeschichte sind in den Gefängnissen überrepräsentiert. In der JVA Korneuburg, die ich besuchen durfte, waren 70% aller Gefangenen ohne österreichischen Pass. Gleichzeitig haben wir in Deutschland und in Österreich in den jüngsten Wahlen Erfolge der Parteien erlebt, die propagieren, die Migration sei die Mutter aller Probleme.

Die ÖVP und FPÖ, die stärksten Parteien Österreichs, wünschen sich, dass die ausländischen Gefangenen in ihren Herkunftsländern ihre Strafen absitzen. „Haft in der Heimat weiter forcieren.

Auch die extremste Beseitigung von Menschen zur Lösung von sozialen Problemen, die Todesstrafe, wird wieder öffentlich diskutiert. FPÖ-Chef Herbert Kickl hatte erklärt, dass er zwar gegen die Todesstrafe sei, aber ihre Einführung sei möglich, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung dafür ist.

Adorno erklärte 1967 in seiner Rede „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ in der Universität Wien, warum die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus nach wie vor fortbestehen. An erster Stelle nannte er die „herrschende Konzentrationstendenz des Kapitals… Diese Konzentrationstendenz bedeutet nach wie vor auf der anderen Seite die Möglichkeit der permanenten Deklassierung von Schichten, die ihrem subjektiven Klassenbewusstsein nach durchaus bürgerlich waren, die ihre Privilegien, ihren sozialen Status festhalten möchten und womöglich ihn verstärken.
Die Angst vor Deklassierung konnte nur zu den Wahlerfolgen der rechten Parteien beitragen, weil es Deklassierte gibt – alleingelassene Deklassierte. Obwohl die Straffälligenhilfe,  eine Lobby für Gefangene ist, heißt es auch da: „Gefangene haben keine Lobby.“ Wie tief verwurzelt diese Haltung in der Gesellschaft ist, vermittelt die Geschichte der Anerkennung der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ als Opfer den Nationalsozialismus. Erst 2020 hat in Deutschland der Bundestag erklärt, dass niemand zu Recht in einem Konzentrationslager war. Um die nach wie vor bestehenden Vorurteile gegen Randgruppen zu bekämpfen, wurde eine Ausstellung in Auftrag gegeben. Am 10.10.2o24 ist die Ausstellung in Berlin eröffnet worden.

Frank Nonnenmacher stellt 14 sogenannte „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ vor, die in  Konzentrationslager kamen und dort den schwarzen bzw. den grünen Winkel trugen: „In allen hier beschriebenen Fällen geht es um deviantes Verhalten, um unangepasste Lebensstile, um die Strategien der Menschen, in Krisenzeiten, Armut und materieller Not ein erträgliches Auskommen zu finden. Deutlich wird, dass Devianz und Delinquenz Akte der Notwehr in als aussichtslos erachteten  Situationen sein können“ (Frank Nonnenmacher (Hg.): Die Nazis nannten sie „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik.)

Es ist offenkundig, dass die Mehrheit der Gefangenen auch heute noch kriminalisiert wurden, weil sie arm sind. Auch die Kriminalisierung der ausländischen Gefangenen steht im Zusammenhang ihrer Armut und den unterschiedlichen Graden ihrer Integration in die Gesellschaften. Im 1. Periodischen Sicherheitsbericht Deutschlands hieß es auf S. 306: „Die Deliktbegehung hängt mit dem Aufenthaltsstatus und dessen Folgen für die Integrationschancen zusammen. Prävention ist vor allem durch Integration, z. B. Bildungsförderung und Sprachkurse, zu erreichen.“

Von den ca. 100.000 Gefangenen, die in Deutschland jährlich in Haft kommen, sind über die Hälfte Menschen, die eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten und deshalb eine Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen haben. Die Gefängnisse sind vor über 200 Jahren aus Armenhäusern entstanden und sind bis heute Armenhäuser geblieben. Die Ärmsten der Armen, die Wohnungs- und Obdachlosen, sind die am stärksten überrepräsentierte soziale Gruppe in den Gefängnissen, nicht die Ausländer, von denen viele wohnungslos sind.

In der Auseinandersetzung mit der Wohnungslosigkeit wurden die inhaftierten Wohnungs- und Obdachlosen jahrzehntelang ignoriert, weil als „untergebracht“ eingestuft waren.

Im ersten Wohnungslosenbericht Deutschlands, der Ende 2022 veröffentlicht wurde, heißt es verharmlosend: „Es liegen derzeit keinerlei Informationen oder systematisch und flächendeckend erhobene, quantitative Erkenntnisse dazu vor, welchen Wohnstatus Inhaftierte vor Antritt ihrer Freiheits-strafe und während ihrer Inhaftierung hatten bzw. nach der Haftentlassung haben werden.

Dabei waren am 31.März 2022 vom Statistischen Bundesamt in der Rechtspflegestatistik von den 42.492 Strafgefangenen 5.295 ohne festen Wohnsitz registriert. Für die Untersuchungsgefangenen und die Patienten des Maßregelvollzugs werden keine Daten zur Wohnsituation veröffentlicht.

Seit Marion Müller ihrer Dissertation Kriminalität, Kriminalisierung und Wohnungslosigkeit“ veröffentlichte, kann nicht mehr kleingeredet werden, dass die Zellengefängnisse seit ihrer Entstehung vor 200 Jahren Armenhäuser geblieben sind.
Die Gefängnisse tragen selbst zur Verarmung und damit zur Kriminalisierung bei. In ihrer Studie „Befragung zur Lebenslage von obdachlosen und wohnungslosen Menschen in Köln“ fand  die Bremer Gesellschaft für Innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) heraus: „Eine Haft als ein Grund für Wohnungsverlust betraf 263 wohnungslose Personen. Bei elf Prozent der Wohnungslosen, die eine Wohnung in Deutschland verloren haben, war ein Haftaufenthalt, teilweise in Kombination mit Mietschulden oder anderen Umständen, der Grund dafür.

Die soziale Ungleichheit führt dazu, dass Arme bis zu 15 Jahre früher sterben als Wohlhabende.
Durch Dr. Jochen Woltmann, dem leitenden Arzt des Justizvollzugskrankenhauses von Nordrhein-Westfalen in Fröndenberg, haben wir auf der Konferenz erfahren, dass das mittlere Sterbealter von inhaftierten Männern in der Zeit von 2014 – Juni 2023 bei 59 Jahren lag, während die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern in Deutschland bei 78,5 Jahren liegt. Er hat nicht erhoben, wie groß der Anteil von Wohnungslosen unter den verstorbenen Gefangenen war, aber es liegt auf der Hand, dass er beachtlich sein muss. Nina Asseln hat durch ihre Dissertation Todesfälle von Wohnungslosen in Hamburg – Entwicklung von 2007 bis 2015“ herausgefunden, dass Wohnungslose durchschnittlich 30 Jahre früher als Menschen sterben, die ein Zuhause haben.
Hilfe ist immer dann nötig, wenn Hilfsbedürftigkeit erstmal in der Welt ist. Die deutschen Sozialverbände helfen seit über 150 Jahren—und das halte ich für ein trauriges Urteil. Wenn man sich nicht mehr mit den Ursachen der Notlagen in Deutschland oder der Welt befassen will, dann ist Hilfe gar kein erster Schritt zur Überwindung der Probleme, sondern nur die Betreuung des Leids.“ Quelle Vice.com

Wenn schon von einer „Mutter aller Probleme“ die Rede sein soll, dann ist es nicht die Armut, die Armut selbst ist Teil eines größeren Problems, der sozialen Ungleichheit. Bertolt Brecht sah das 1934 so: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sahn sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär‘ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

Franz von Liszt Empfehlung „Ein gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik“ war bisher in keinem Land  mit einem Kampf zur Überwindung der sozialen Ungleichheit verbunden. Die niedrigen Gefangenenraten in den skandinavischen Ländern, wo der Sozialstaat am wenigsten zerstört wurde, vermitteln, was weltweit sein könnte.

Auf der Konferenz war man sich einig, dass es die Ministerien für Gesundheit sein sollten, die für das Gesundheitssystem des Gefängnisses zuständig sein sollten, so dass in Gefängnissen derselbe Standard in der Gesundheitsversorgung wie außerhalb des Gefängnisses gesichert werden kann. Dabei sollte berücksichtigt werden, was die Moskau Deklaration der WHO, die sich mit Gesundheit im Gefängnis als einem Teil öffentlicher Gesundheit beschäftigt, besagt:

Den Regierungen der Mitgliedstaaten wird eine enge Zusammenarbeit zwischen den für die Gesundheit und für den Strafvollzug zuständigen Ministerien empfohlen, um hohe Qualitätsstandards bei der Behandlung von Gefangenen und zum Schutze der Beschäftigten zu sichern, gemeinsame Fachschulungen zu moderner Krankheitsbekämpfung durchzuführen, eine hohe Professionalität des medizinischen Strafvollzugspersonals zu erzielen, Behandlungskontinuität in Strafvollzug und Gesellschaft zu erreichen und die Statistiken zu vereinheitlichen.
Quelle: Euro- päischen Kommission, Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz, unterstützt, Projekt Nr. 2003308, Europäisches Netzwerk zu Drogen und Infektionsprävention im Gefängnis (ENDIPP).

Gefordert werden muss jedoch nicht nur die Transformation der Zuständigkeit von den Justiz- zu den Gesundheitsministerien. Auch die krankmachende Unterbringung in Zellen, muss beendet werden.

Dr. Hans Wolf, Chefarzt für die Abteilung für Gefängnismedizin an der Genfer Universitätsklink konnte an der Konferenz in Wien nicht teilnehmen. In der Beilage der Schweizer Wochenzeitung „Weggesperrt. Hinter Schweizer Gefängnismauern“ schrieb er unter dem Titel „Einzelhaft kann töten“ über die mangelhafte Suizidprävention in den Schweizer Gefängnissen. Auf die Frage „Was ist so gefährlich an dieser Einzelhaft?“ antwortete er: „Diese Disziplinarstrafe reisst die Häftlinge aus ihrem gewohnten Umfeld. Meist sind sie 23 Stunden am Tag in der Einzelzelle, was zu Frustrationen und Affekthandlungen führen kann. Das Suizidrisiko ist 10 bis 15 Mal so hoch wie in Normalhaft beziehungsweise im Gruppenvollzug, 100 bis 150 Mal so hoch wie in Freiheit. Man kann also sagen, dass disziplinarische Einzelhaft töten kann.

Im deutschen Strafvollzugsgesetz haben die Verfasser daher den Vollzug so gestalten wollen:
(1) Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden.
(2) Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken.
(3) Der Vollzug ist darauf auszurichten, daß er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.

Ernst genommen bedeutet das, dass der offene Vollzug Regelvollzug werden sollte. Wie weit davon die Realität im bundesdeutschen Strafvollzug ist, zeigen die unterschiedlichen Anteile des Offenen Vollzugs in den Bundesländern und die geringe Gesamtzahl der Gefangenen im Offenen Vollzug: .
Ende März 2022 befanden sich 5.933 Strafgefangene im offenen Vollzug und 36.559 im geschlossenen Vollzug in Deutschland.
Zu meiner Überraschung teilte der Leiter der Justizanstalt Korneuburg bei der Führung durch das Gefängnis mit, dass es eine Abteilung gibt, in der die Hafträume für die Gefangenen täglich 24 Stunden offen sind und eine andere Abteilung in der die Zellen der Gefangenen tagsüber 12 Stunden von ihnen selbst auf und zu geschlossen werden können.

Ron Steinke: Die ganze Welt des Strafvollzugs ist in Deutschland eine Welt der Euphemismen. Es gibt auch keine Zellen in Deutschland, sondern es gibt offiziell nur „Hafträume.“ (In einem Videostatement in der Ausstellung „Die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“)

Wenn Gefangene täglich 24 Stunden selbst bestimmen können, ob sie ihre Zelle auf- oder zuschließen, kann man tatsächlich von Haftraum sprechen. Ein österreichischer Beitrag zur Abschaffung der Zellengefängnisse?

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