Weltweit kämpfen Justizsysteme mit steigenden Gefangenenzahlen und überfüllten Gefängnissen. Nicht so in den Niederlanden: Hier stehen viele Gefängnisse leer, wurden zu Hotels oder Kulturzentren umgebaut – ein Modell, das international Beachtung findet. Doch hinter dieser vermeintlichen Erfolgsgeschichte verbirgt sich ein komplexeres Bild. Zwischen sinkender Kriminalität, alternativen Strafmaßnahmen und neuen Herausforderungen wie überfüllten Haftanstalten und Personalmangel zeigt der niederländische Strafvollzug, wie schwierig die Balance zwischen Fortschritt und sozialer Sicherheit ist. Was macht das niederländische System aus? Welche Reformen haben sich bewährt, und wo gibt es noch Probleme?

Vom Gefängnis zum Luxushotel

Einige der leerstehenden Gefängnisse in den Niederlanden wurden mittlerweile auf eindrucksvolle Weise umgenutzt. Das ehemalige Gefängnis Het Arresthuis dient heute als luxuriöses Hotel, das seinen Gästen nicht nur Komfort, sondern auch einen faszinierenden Einblick in die Geschichte der einstigen Haftanstalt bietet. Auch andere ehemalige Gefängnisse wurden in Hotels umgewandelt, die durch ihre außergewöhnliche Atmosphäre sowohl Touristinnen und Touristen als auch Geschäftsreisende anziehen. Darüber hinaus sind aus manchen Haftanstalten Kulturzentren geworden, die Raum für Konzerte, Ausstellungen und Veranstaltungen bieten. Solche Umnutzungen schaffen nicht nur wirtschaftlichen Mehrwert, sondern tragen auch dazu bei, das gesellschaftliche Stigma von Gefängnissen abzubauen.       Doch was auf den ersten Blick wie eine Erfolgsgeschichte erscheint, offenbart bei genauer Betrachtung die Herausforderungen, mit denen der niederländische Strafvollzug nach wie vor konfrontiert ist. Trotz bemerkenswerter Reformen bedrohen steigende Haftzahlen und ein akuter Personalmangel die Stabilität des Systems.

Rotterdam, Niederlande: das ehemalige Noordsingel-Gefängnis, das zu einem Wohnkomplex mit Gemeinschaftsgarten umgebaut wurde Foto: Adobe Stock

Für diesen Artikel wurde Professor Francis Pakes, Kriminologe an der Universität Portsmouth, interviewt. Seine Einschätzungen beleuchten die Stärken und Schwächen des niederländischen Strafvollzugs und bieten eine fundierte Grundlage für die Analyse der aktuellen Entwicklungen.

Rückgang der Kriminalität und moderate Strafpolitik

Eine Studie der Universitäten Leiden und Portsmouth zeigt, dass die Inhaftierungsrate in den Niederlanden zwischen 2005 und 2016 erheblich gesunken ist: von 94 auf nur noch 51 Häftlinge pro 100.000 EinwohnerInnen. Aktuelle Zahlen aus dem Jahr 2023 verdeutlichen, dass sich dieser Abwärtstrend zwar verlangsamt hat, die Rate jedoch weiterhin auf einem niedrigen Niveau stabil bleibt und unter dem EU-Durchschnitt liegt.

Daten des niederländischen Justizministeriums führen diesen Rückgang vor allem auf eine sinkende Zahl registrierter Straftaten zurück – insbesondere bei Einbrüchen, Diebstählen und Gewaltverbrechen. Francis Pakes erklärt diese Entwicklung als Ergebnis eines Zusammenspiels aus verbesserten Sozialprogrammen, gezielten Präventionsmaßnahmen und einer moderaten Strafpolitik. „Die niederländische Polizei hat in den letzten Jahren mit weniger schweren Straftaten zu tun gehabt, wodurch auch weniger Menschen zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Ein solcher Rückgang der Kriminalität lässt sich auch in anderen Ländern beobachten“, so Pakes. „Zudem wurde die Strafpolitik – anders als etwa in Großbritannien – nicht verschärft. Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass sich die Gefängnispopulation innerhalb von 15 Jahren nahezu halbiert hat.

Der Erfolg ist kein Zufall: Die Niederlande investieren gezielt in soziale Sicherungssysteme, Bildungsprogramme und Jugendarbeit, die oft verhindern, dass Menschen überhaupt erst kriminell werden. Ergänzend dazu setzt die Polizei auf moderne, datengestützte Analysen und gezielte Einsätze. Auch strengere Waffengesetze und die zunehmende Digitalisierung von Sicherheitssystemen tragen wesentlich zur Kriminalitätsprävention bei.

Alternative Strafen: Ein Erfolgsmodell?

Alternative Strafmaßnahmen wie die elektronische Fußfessel und gemeinnützige Arbeit spielen eine zentrale Rolle in der Kriminalitätsbekämpfung und bei der erfolgreichen Resozialisierung. Diese Ansätze haben sich in den letzten Jahren als äußerst wirksam erwiesen, um Rückfälle zu verhindern und gleichzeitig die niederländischen Gefängnisse zu entlasten. „Kurze Haftstrafen sind oft schädlich für das Leben der Betroffenen und bringen keine positiven Impulse für deren persönliche Entwicklung“, betont Francis Pakes. Im Gegensatz dazu ermöglichen Alternativen wie die elektronische Fußfessel Straftäterinnen und Straftätern, in ihrer Gemeinschaft zu bleiben und soziale Bindungen aufrechtzuerhalten. Dies verhindert soziale Isolation und erleichtert den Weg zu einer langfristigen Resozialisierung. Das niederländische Modell setzt dabei auf eine klare Zielsetzung: Rückfälle durch gelungene Resozialisierung zu verhindern. Es geht nicht nur um die Vollstreckung von Strafen, sondern darum, Verurteilten neue Perspektiven zu bieten. „Freiheitsstrafen sollten nur dann verhängt werden, wenn sie wirklich notwendig sind“, erklärt Pakes. Bei bestimmten Delikten wie Stalking wird häufig ein kurzer Freiheitsentzug gefordert, um ein deutliches Signal zu setzten. Doch Pakes warnt: „Wir müssen die Grenzen des Gefängnisses erkennen, insbesondere wenn es um die Rehabilitation von Gefangenen geht“.

Foto: Adobe Stock

Das niederländische Modell verdeutlicht, dass nicht jeder Straftäter und jede Straftäterin zwangsläufig ins Gefängnis gehört. Haftstrafen sollten vor allem jenen vorbehalten sein, die aufgrund schwerwiegender Vergehen oder komplexer Bedürfnisse eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Gleichzeitig wird anerkannt, dass Gefängnisse weiterhin eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft spielen und auch in Zukunft unverzichtbar sein werden. Sie erfüllen nicht nur eine Schutzfunktion, sondern sind auch ein wesentlicher Bestandteil eines ausgewogenen und differenzierten Justizsystems.

Neue Herausforderungen: Überfüllte Gefängnisse und Personalmangel

Trotz der bedeutenden Fortschritte in den vergangenen Jahren steht das niederländische Justizsystem derzeit vor neuen Herausforderungen. Die Zahl der Inhaftierten ist wieder angestiegen – ein Trend, der vor allem auf eine Zunahme schwerer Straftaten und die damit verbundenen längeren Haftstrafen zurückzuführen ist. Anders als in Ländern wie Österreich oder Deutschland bedeutet eine Verurteilung zur Höchststrafe in den Niederlanden lebenslange Haft ohne Aussicht auf eine zweite Chance. Diese Praxis hat dazu geführt, dass einige Gefängnisse an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Zudem kämpft der Strafvollzug mit einem akuten Personalmangel. „Die Arbeit im Gefängnis ist anspruchsvoll und wird oft nicht angemessen entlohnt, was es schwierig macht, qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen und langfristig zu binden“, erklärt Pakes. Dieser Mangel wirkt sich direkt auf die Qualität der Haftbedingungen und die Sicherheit innerhalb der Einrichtungen aus, was die Situation zusätzlich verschärft.

Im Zuge der genannten Herausforderungen wurde jüngst ein Ansatz zur Entlastung der niederländischen Gefängnisse diskutiert: die Verlegung von Häftlingen ins Ausland. Dabei stand die Idee im Raum, Gefangene aus überfüllten Haftanstalten in europäische Nachbarländer zu verlegen, um die nationale Überbelegung zu verringern. Dieser Ansatz wirft jedoch sowohl rechtliche als auch ethische Fragen auf und bleibt daher ein kontrovers diskutiertes Thema.

Internationale Wahrnehmung: Die Niederlande als Vorbild? 

Trotz der jüngsten Rückschläge hat das niederländische Modell auch über die Landesgrenzen hinaus Beachtung gefunden. Besonders eindrucksvoll war die Erwähnung durch den britischen Justizminister James Timpson, der das niederländische System als Beispiel dafür hervorhob, dass ein Rückgang der Gefangenenzahlen nicht zwangsläufig mit einem Anstieg der Kriminalität einhergehen muss. „Die öffentliche Sicherheit ist trotz des Rückgangs der Gefangenenzahlen gewahrt geblieben“, erklärte Francis Pakes. „Das gibt Hoffnung“. Die niederländische Praxis beweist, dass Reformen im Strafvollzug möglich sind und dass auch andere Länder bereit sein könnten, ähnliche Wege zu beschreiten – jedoch nur, wenn die Systeme kontinuierlich weiterentwickelt und an neue Herausforderungen angepasst werden.

Reformen zwischen Erfolg und neuen Herausforderungen

Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Justizbeamtinnen und Justizbeamte ist von zentraler Bedeutung. „Wir müssen attraktive Arbeitsbedingungen schaffen, um einen sicheren und humanen Strafvollzug zu gewährleisten“, betont Francis Pakes. Höhere Gehälter, bessere Ausbildungsprogramme und ein sichereres Arbeitsumfeld sind dabei entscheidende Faktoren. Gleichzeitig erfordert auch die psychische Gesundheit der Häftlinge mehr Aufmerksamkeit. Vorzeitige Entlassungen mögen kurzfristig Entlastung schaffen, bergen jedoch langfristige Risiken für die öffentliche Sicherheit. Resozialisierung muss daher ganzheitlich gedacht werden – sie beginnt mit der Betreuung während der Haftzeit und endet mit gezielter Unterstützung nach der Entlassung.

Doch bleibt die drängende Frage, wie mit der Zunahme schwerer Straftaten und überfüllten Gefängnissen umzugehen ist. Eine Lösung könnte in einer Kombination aus präventiven Maßnahmen, nachhaltigen Investitionen und internationaler Zusammenarbeit liegen. Der niederländische Strafvollzug zeigt eindrucksvoll, dass es möglich ist, die Zahl der Gefängnisinsassen zu reduzieren, ohne die öffentliche Sicherheit zu gefährden. Präventive Maßnahmen, alternative Strafen und eine moderate Strafpolitik bilden die Grundlage dieses Erfolgs. Doch überfüllte Haftanstalten und Personalmangel unterstreichen die Notwendigkeit fortlaufender Reformen und Investitionen. „Die Niederlande sind ein Beispiel dafür, wie Veränderung im Strafvollzug möglich ist, ohne dass die Gesellschaft dabei auseinanderfällt “, resümiert Pakes. Die Balance zwischen Strafe und Resozialisierung bleibt jedoch eine anspruchsvolle Aufgabe, die durch innovative Lösungen und entschlossene politische Maßnahmen kontinuierlich weiterentwickelt werden muss.

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