Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 16. Oktober 2024 entschieden, dass ein Landgericht gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör verstoßen hat, indem es einen Schriftsatz eines Strafgefangenen nicht berücksichtigt hatte. Der Fall betrifft einen Gefangenen, der gegen seine Verlegung aus einer sozialtherapeutischen Anstalt in eine reguläre Justizvollzugsanstalt vorgehen wollte.
Der Fall: Verlegung gegen den Willen des Gefangenen
Der Beschwerdeführer, der eine sechsjährige Freiheitsstrafe verbüßt, wurde seit 2021 in einer Sozialtherapeutischen Anstalt untergebracht, wo er eine Ausbildung zum Betriebselektroniker absolvierte. Im Februar 2024 wurde ihm jedoch mitgeteilt, dass er in die Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen verlegt werden solle. Er beantragte daraufhin eine gerichtliche Entscheidung gegen diese Maßnahme.
Das zuständige Landgericht Bochum gab ihm am 26. Februar 2024 eine Frist von fünf Tagen, um eine Stellungnahme abzugeben. Sein Anwalt reichte den Schriftsatz fristgerecht am 4. März 2024 per Fax ein, jedoch traf dieser erst um 00:18 Uhr am 5. März ein – also nur wenige Minuten nach Ablauf der gesetzten Frist.
Justizversagen: Entscheidende Argumente ignoriert
Das Landgericht fällte seine Entscheidung am 5. März 2024, ohne die verspätet eingegangene Stellungnahme des Gefangenen zu berücksichtigen. Erst am 6. März wurde der Schriftsatz von der Gerichtsverwaltung erfasst. Der Gefangene legte daraufhin Rechtsbeschwerde beim Oberlandesgericht (OLG) Hamm ein, das jedoch die Beschwerde als unzulässig verwarf.
Das BVerfG stellte fest, dass die Gerichte damit den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzt haben. Das Verfassungsgericht argumentierte, dass es unerheblich sei, ob ein Schriftstück wenige Minuten nach einer gerichtlich gesetzten Frist eingeht – insbesondere dann, wenn keine gesetzliche Frist verpasst wurde. Zudem sei es Aufgabe der Gerichte, ihre internen Abläufe so zu organisieren, dass eingehende Schriftsätze vor einer Entscheidung berücksichtigt werden.
Verfassungsgericht setzt klare Grenzen für Justizpraxis
Das Urteil des BVerfG ist ein deutliches Signal an die Strafjustiz und den Strafvollzug. Es betont, dass Gerichte die Argumente von Prozessparteien sorgfältig prüfen müssen, selbst wenn diese mit minimaler Verzögerung eingereicht werden. Insbesondere in Fällen, in denen die Entscheidung gravierende Folgen für den Betroffenen hat – wie hier die Verlegung aus einer spezialisierten Therapiemaßnahme zurück in den regulären Strafvollzug – darf der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht durch formale Fristfragen ausgehöhlt werden.
Die Entscheidung verpflichtet das Landgericht Bochum nun zur erneuten Prüfung des Falls unter Berücksichtigung der Argumente des Gefangenen. Zudem muss das Land Nordrhein-Westfalen die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerdeverfahren tragen.
Bedeutung für die Praxis
Dieses Urteil könnte weitreichende Folgen für die Praxis im Strafvollzug haben. Es zeigt, dass Gerichte nicht allein aus formalen Gründen Schriftsätze ignorieren dürfen. Vielmehr müssen sie sicherstellen, dass sämtliche eingereichten Dokumente, die vor der Entscheidung vorliegen, in die Urteilsfindung einbezogen werden. Besonders für Strafgefangene, die sich gegen Vollzugsmaßnahmen wehren, bedeutet dies eine Stärkung ihrer prozessualen Rechte.
Die Entscheidung verdeutlicht auch, dass das Bundesverfassungsgericht als letzte Instanz bereit ist, Grundrechtsverletzungen entschieden zu korrigieren. Es bleibt abzuwarten, ob diese Klarstellung zu einer veränderten Handhabung von Fristen und Stellungnahmen in der gerichtlichen Praxis führen wird.