Viele Gefangene und ihre Angehörigen kennen dieses Gefühl: Egal, was man tut, es scheint nie genug zu sein. Man kämpft, bemüht sich, versucht, Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen – und trotzdem bleibt der nagende Zweifel: Habe ich wirklich eine zweite Chance verdient? Wird die Gesellschaft mich jemals anders sehen? Oder bin ich für immer nur „der Ex-Knacki“?

Das sogenannte Imposter-Syndrom verstärkt diese Unsicherheiten. Es sorgt dafür, dass Menschen ihre eigenen Erfolge nicht anerkennen. Sie glauben, nur durch Zufall oder Mitleid Chancen bekommen zu haben und fürchten, bald als „Betrüger“ entlarvt zu werden. Besonders nach der Haftentlassung kann dieses Gefühl lähmend wirken: Jeder Rückschlag wird als Bestätigung gesehen, dass man doch nicht dazugehört, dass der eigene Platz nicht in Freiheit, sondern in der Zelle ist.

Ich werde das nie schaffen“ – Die Geschichte von Mehmet

Mehmet, 37, saß sieben Jahre wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis. In der Haft hat er seinen Hauptschulabschluss nachgeholt und eine Ausbildung als Schweißer gemacht. Nach seiner Entlassung bekam er sogar eine Stelle in einem kleinen Metallbetrieb. Eigentlich lief alles gut – doch in seinem Kopf hörte er immer wieder eine Stimme: „Du bist hier fehl am Platz. Die Kollegen tun nur so, als würden sie dich akzeptieren. Sobald du einen Fehler machst, schmeißen sie dich raus.

Tatsächlich unterlief ihm nach wenigen Wochen ein Missgeschick: Eine Schweißnaht hielt nicht, und ein Auftrag musste nachgebessert werden. Sein Chef nahm es gelassen, doch für Mehmet war es der Beweis, dass er versagt hatte. Er traute sich kaum noch, Entscheidungen zu treffen, begann, sich selbst als unfähig zu sehen. Schließlich kündigte er – überzeugt davon, dass er es ohnehin nicht schaffen würde.

Was Mehmet nicht wusste: Selbst erfahrene Kollegen machen Fehler. Aber während sie darüber lachen und weitermachen, sah er sein Missgeschick als Beweis dafür, dass er in der freien Welt nichts verloren hat.

Alte Muster, neue Ängste

Doch Selbstzweifel sind tückisch. Sie sorgen dafür, dass man sich selbst im Weg steht. Man traut sich keine neuen Herausforderungen zu, sabotiert sich unbewusst, zieht sich zurück, wenn es kompliziert wird. Gerade Menschen mit einer Haftgeschichte erleben das besonders stark: Wer einmal gefallen ist, hat Angst, wieder zu stürzen – und bleibt deshalb lieber stehen.

Viele Gefangene haben in ihrer Kindheit und Jugend gelernt, dass sie für ihre Erfolge nicht gelobt, sondern für ihre Fehler bestraft werden. Wenn man jahrelang gehört hat: „Aus dir wird nichts!“, bleibt diese Stimme oft im Kopf. Dazu kommt der Druck von außen. Arbeitgeber, Nachbarn, selbst Familie und Freunde begegnen einem oft mit Misstrauen.

Ich gehöre hier nicht hin“ – Marias Kampf mit sich selbst

Maria, 29, war fünf Jahre wegen Drogenhandels in Haft. Dort hat sie sich das erste Mal in ihrem Leben wirklich mit sich selbst auseinandergesetzt. Sie besuchte eine Therapie, machte einen Entzug, arbeitete in der Gefängnisküche. Nach ihrer Entlassung bekam sie einen Platz in einer Bäckerei – doch von Anfang an fühlte sie sich fehl am Platz.

Die anderen haben keine Ahnung, wer ich wirklich bin“, dachte sie oft. Wenn die Kolleginnen über ihren letzten Urlaub sprachen, fühlte sie sich wie eine Hochstaplerin. Sie hatte keinen Urlaub, sondern fünf Jahre hinter Gittern verbracht. Wenn jemand sie lobte, dachte sie: „Wenn die wüssten, wer ich wirklich bin, würden sie mich verachten.“

Schließlich begann Maria, sich selbst auszugrenzen. Sie nahm sich vor, lieber nicht aufzufallen. Sie mied Pausen mit den Kolleginnen, redete kaum über sich. Das Ergebnis: Die anderen hielten sie für kühl und distanziert. Sie bekam das Gefühl, nicht dazuzugehören – und gab schließlich auf.

Der Schlüssel liegt in der Selbstakzeptanz

Was Maria und Mehmet nicht wussten: Sie waren nicht allein mit ihren Zweifeln. Viele Menschen – nicht nur ehemalige Häftlinge – kämpfen mit dem Gefühl, ihre Erfolge nicht verdient zu haben. Doch dieses Gefühl ist ein Trugbild. Jeder, der sich aus der Kriminalität löst, einen Abschluss nachholt oder einfach nur die Kraft aufbringt, weiterzumachen, hat sich seinen Platz in der Gesellschaft verdient.

Der erste Schritt aus der Selbstsabotage ist, sich bewusst zu machen, dass die eigenen Erfolge kein Zufall sind. Ein kleiner Rückschlag bedeutet nicht, dass man versagt hat. Niemand erwartet Perfektion – nur, dass man weitermacht. Wer sich an kleine Erfolge erinnert und sich Unterstützung holt, kann das Imposter-Syndrom Stück für Stück überwinden.

Vielleicht darf ich glücklich sein“ – Daniels Wendepunkt

Daniel, 41, war fast zwei Jahrzehnte lang im Gefängnis. Als er entlassen wurde, fühlte er sich wie ein Fremder in der Welt. Jeder Laden, jede Straße wirkte anders als damals. Als er schließlich einen Job in einer Autowerkstatt bekam, wartete er nur darauf, dass ihn jemand „durchschaut“.

Doch sein Chef sagte ihm eines Tages: „Du machst einen guten Job. Lass dir von niemandem – nicht mal von dir selbst – etwas anderes einreden.“ Das war der Wendepunkt. Daniel begann, sich bewusst an seine Fortschritte zu erinnern. Er schrieb auf, was er täglich geschafft hatte. Langsam wurde die Stimme in seinem Kopf leiser. Er erkannte, dass er kein Betrüger war – sondern jemand, der sich sein neues Leben verdient hatte.

Niemand wird als „Betrüger“ geboren. Jeder Mensch macht Fehler, aber das bedeutet nicht, dass er für immer in seinen alten Mustern gefangen bleiben muss. Die Vergangenheit definiert nicht, wer man ist – sondern die Entscheidungen, die man heute trifft. Zweifel gehören zum Leben dazu, doch sie dürfen nicht verhindern, dass man an sich selbst glaubt.

One Reply to “Gefangen im Zweifel – Selbstzweifel und das Imposter-Syndrom hinter Gittern”

  1. Hinzu zum mangelnden Selbstvertrauen welches meist auch vom äußerem Umfeld schon in Familie, Schule, Bekanntenkreis usw. verstärkt wird, kommt der Gesellschaftliche Druck welcher in eine Leistungsgesellschaft vorherrscht. Dem Motto schöner, schneller, höher, und reicher folgend, jagen Menschen diesem vermeintlichen Glücks Erlebnis hinter her, dabei verlieren sie sich selbst, sie landen in einer Spirale der negativen Empfindungen.

    Mein Rezept: Mut zur entschleunigung, Achtsamkeit auf Tiere und Natur, eine handvoll selbst auserwählte „Herz Menschen“ an der Seite, mit denen man Ziele erarbeitet und dabei Lachen kann.

    Die innige Liebe zu einer Person zu finden der man bedingungslos vertraut, ist dann wie die Erdbeere auf der Torte.

    Wünsche allen Menschen die noch an sich zweifeln das sie ihren persönlichen Weg zum Glück finden können.

    Letzten Endes professionelle Unterstützung gibt es auch, niemand muss einsam bleiben.

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