522 Tage unschuldig in Untersuchungshaft. 17 Monate zwischen Hoffnung und Verzweiflung, isoliert hinter Mauern, während draußen über ihn geurteilt wurde: Florian Apler, unbescholtener Familienvater, wurde nach dem Tod seines sechsjährigen Sohnes Leon zum Verdächtigen und schließlich zum Angeklagten in einem Mordprozess, der Österreich erschütterte. Ein Gespräch mit Florian Apler über Justizversagen, Schuld, Verlust und den langen Weg zurück ins Leben.

In seinem Buch „Der Fall Leon“ dokumentiert Apler nicht nur seine Sicht der Ereignisse, sondern erhebt schwere Vorwürfe gegen Polizei und Justiz. Es ist der Bericht eines Mannes, der alles verloren hatte, und dennoch kämpft: für die Wahrheit, für Gerechtigkeit und für das Andenken an seinen Sohn.
Im Interview spricht Florian Apler über Misstrauen und Hoffnung, über die dunklen Seiten des Rechtsstaats -und über das, was ihn trotz allem nicht zerbrechen ließ.
Herr Apler, Sie zeichnen in Ihrem Buch ein bedrückendes Bild der Ermittlungen gegen Sie. Gab es in all den Monaten auch Momente des Zweifelns an Ihrer eigenen Wahrnehmung – Gedanken wie: „Vielleicht übersehe ich etwas Wesentliches“?
Von Minute eins an habe ich die Ermittlungen unterstützt. Noch im Krankenhaus stand ich den Ermittlern für erste Fragen zur Verfügung. In weiterer Folge haben meine Frau und ich alles in unserer Macht Stehende unternommen, um die Ermittlungen voranzutreiben. Wir mussten sehr schnell feststellen, dass kapitale Fehler gemacht wurden, die sogar uns Laien auffielen. Das begann schon bei der Tatortarbeit, wo mit wichtigen Spuren amateurhaft umgegangen wurde. So wurden Beweisstücke vom Tatort entweder gar nicht erst sichergestellt oder erst Tage später von Passanten oder der Müllabfuhr an das LKA übergeben.
Wir haben dann auf eigene Faust eine Suchhundestaffel organisiert, Suchzettel aufgehängt und Leute im Ort befragt. Wir haben einen bekannten deutschen Profiler kontaktiert, der zur Unterstützung bereit gewesen wäre, aber er wurde vom LKA abgelehnt.
Wir sind an den schmerzlichen Ort, den Tatort, zurückgekehrt, in der Hoffnung, dass ich noch Erinnerungen zurückbekomme.
Es mag verrückt klingen, wir haben sogar Kontakt zu einer Wahrsagerin aufgenommen und eine Dame aufgesucht, die behauptete, mit Verstorbenen in Verbindung treten zu können. Ich habe Gedächtnisprotokolle angefertigt und bin alles immer wieder durchgegangen. Wir haben jedes noch so kleine Blatt gedreht und gewendet, und daher kann ich Ihre Frage, ob ich etwas Wesentliches übersehe, zu 100% mit „nein“ beantworten.
Sie sprechen von massiven Ermittlungsfehlern und behördlichem Versagen. Ist Ihr Fall für Sie ein trauriger Einzelfall – oder ein Symptom für ein grundsätzliches Strukturproblem in der österreichischen Strafjustiz?
Ich habe während meiner Haft und vor allem danach mit vielen Menschen gesprochen, telefoniert und geschrieben. Ich war in Kontakt mit verschiedenen Juristen, und eine Vielzahl anderer Betroffener hat sich an mich gewandt. Eines ist dabei für mich erschreckend: gewisse Muster tauchen immer wieder auf, und es ist unglaublich schwer, diese zu widerlegen. Selbst wenn man sie widerlegt, heißt das noch lange nicht, dass sie vom Tisch sind.
Sitzt man erstmal im Gefängnis, hat man aus meiner Sicht kaum noch eine Chance, sich zu verteidigen.
Es gibt Reformbedarf in verschiedenen Bereichen, das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die führender Rechtsexperten in Österreich. Meiner Erfahrung nach betrifft dies vor allem die Thematik Gutachter. Solange hier vor Gericht in Strafverfahren keine Waffengleichheit herrscht, kann ein Ermittlungsverfahren, geschweige denn eine Hauptverhandlung, niemals gerecht sein.
Renommierte Fachleute kommen nicht gegen die vom Staatsanwalt beauftragten Gutachter an, weil sie von Seiten der Verteidigung kommen. Ich überspitze an dieser Stelle bewusst. Behauptet ein Gutachter des Staatsanwalts, der Mond ist eckig, dann bekommen Sie diese These nicht etwa durch entsprechende Gegenexperten vom Tisch, sondern nur dann, wenn sie der Staatsanwalt selbst wieder vom Tisch nimmt. Wir haben hier Unglaubliches erleben müssen. Unhaltbare Theorien der Ermittler wurden knallhart bis zum Prozess durchgeboxt, und erst in der Hauptverhandlung wurde dann kleinlaut ein Fehler nach dem anderen eingestanden.
Das Kurioseste ist dabei für mich, dass ein Gutachter der Verteidigung im Prozess nicht einmal sein Gutachten verlesen darf. Er darf es auch nicht vortragen oder zu seiner Fachmeinung befragt werden. Wenn der Vorsitzende oder die drei Berufsrichter das so entscheiden, bleibt er auf der Ersatzbank kleben und darf nicht unterstützen. Einige Wochen später tritt dann derselbe Sachverständige im „Team Anklage“ an und ist plötzlich eine wichtige Säule für den Staatsanwalt. Zu allem Überfluss bleibt man nach einem Freispruch auf sämtlichen Kosten sitzen. Man kämpft praktisch gegen einen Gegner mit unbegrenzten Ressourcen an, und wenn man den „ungleichen Kampf“ dann für sich entscheidet, werden einem nicht einmal die immensen Anwalts- und Gutachterkosten erstattet. Für einen Rechtsstaat ist das ein Armutszeugnis.
Nach Ihrer langen Haft und Ihrem Freispruch: Was müsste geschehen, damit Sie eines Tages wieder Vertrauen in Polizei und Justiz fassen könnten?
Eine sehr gute Frage und die Antwort ist vielschichtig. Zunächst differenziere ich hier zwischen Polizei und LKA-Beamten. Ich habe Freunde, die bei der Polizei arbeiten und täglich gute Arbeit liefern. Ich bin auch in der JA-Innsbruck auf sehr gute Wachbeamte getroffen, die ja eben auch Polizisten sind. Beim LKA Tirol bin ich ebenso auf gute Beamte getroffen. Es gibt aber wie überall schwarze Schafe, und für solche Beamte müsste es meiner Meinung nach Konsequenzen geben. Aber selbst wenn man ihnen kapitalste Fehler nachweisen kann, bleiben sie auf ihren Posten sitzen und können weiter ihr Unwesen treiben. Das kann ich einfach nicht nachvollziehen. In der freien Wirtschaft wäre die Karriere vorbei, und auf den Betreffenden kämen massive Haftungsansprüche zu. Und in der Justiz heißt es dann einfach: Weiter so?
Sie waren selbst viele Jahre als Zeitsoldat im Staatsdienst und damit Teil des Systems, das Sie heute scharf kritisieren. Was haben Sie rückblickend über Loyalität und Systemversagen gelernt?
Das System ist nicht das Problem, es sind einzelne Menschen, die in seinem Namen handeln und sich notfalls unter seinem Deckmantel verkriechen. Macht ist ein Werkzeug, das sehr behutsam eingesetzt werden sollte. Wir sind eben alle Menschen mit Prägungen, und manchmal werden wir von unseren Prägungen, von unserer persönlichen Meinung oder durch Einfluss Dritter zu falschen Entscheidungen verleitet.
Medien haben Ihren Fall massiv begleitet – teils reißerisch, teils investigativ. Waren die Medien für Sie eher Teil des Problems oder Teil der Lösung?
Die Medien wurden zum Teil instrumentalisiert und wurden mit Informationen gefüttert, die sich im Nachhinein als falsch herausgestellt haben. Aber sie haben diese falschen Informationen ungeprüft verbreitet. Ich hatte vor dem Prozess große Sorge, ob mir noch jemand Glauben schenken würde nach all diesen verheerenden Berichten über meine Person. Und jetzt erschüttert mich, wie wenig investigativ die Medien weiterhin arbeiten. Jetzt, wo so vieles ans Tageslicht gekommen ist, jetzt, da man weiß, dass die Justiz eklatante Fehler gemacht hat, wendet man sich offenbar anderen Dingen zu. Die Freiheit ist ein sehr hohes Gut, sie zu verlieren ist eines der schlimmsten Dinge, die einem widerfahren können. Mich wundert, dass die Medien als die angebliche vierte Macht im Staate hier nicht engagierter sind.
Es gibt Personen, die Ihre öffentliche Kritik an der Justiz für gefährlich halten, weil sie das Vertrauen in rechtsstaatliche Institutionen untergrabe. Was antworten Sie diesen Stimmen?
Hört und lest genau, was und wen ich kritisiere. Ich stülpe keine Generalkritik über alle, ich kritisiere das Fehlverhalten einzelner Beamter und Justizangehöriger. Mein Appell an die Verantwortlichen, an die Vorgesetzten, an die Politiker lautet: Schaut euch diese Leute an, damit sie nicht noch mehr Schaden anrichten. Ich wurde öffentlich gesteinigt, meine Familie musste und muss unendliches Leid ertragen, und das, obwohl wir schon unseren Sohn verloren haben. Dagegen soll ich mich nicht wehren?

Sie schildern eindrucksvoll Ihre Haftzeit – zwischen Isolation und Kampfgeist. Inwieweit war Ihr Schreiben, Ihr Tagebuch und später dieses Buch auch ein Mittel der Selbstverteidigung?
Ich muss mich weder verteidigen, noch rechtfertigen. Das Tagebuch habe ich eigentlich für meine Tochter geschrieben. Ich wollte, dass sie später alles aus meiner Perspektive lesen sollte. Das auf diesem Tagebuch basierende Buch „Der Fall Leon“ war und ist ein sehr wichtiger Teil der Bewältigung dieses schlimmen Kapitels meines Lebens. Ich wusste ja nicht, ob ich jemals freikomme, und die Vorstellung, mit einem Tagebuch all die unglaublichen Erlebnisse aus den Gefängnismauern nach außen zu tragen, war ein sehr kraftvoller Gedanke während der Haft.
Bis heute fehlt eine offizielle Entschuldigung des Staates für das, was Ihnen widerfahren ist. Wie erklären Sie sich diese Sprachlosigkeit der Verantwortlichen?
Ich denke, nach wie vor haben sich viele in der Justiz nicht wirklich in der Tiefe mit all dem beschäftigt, was während dieser 522 Tage und während der Zeit davor passiert ist. Aber viel wichtiger als eine Entschuldigung der Behörden ist es für uns, endlich den vollen Einblick in die Ermittlungsakten zu bekommen, der uns auch nach mehreren Schreiben an die Verantwortlichen beim LKA Tirol und bei der Justiz noch immer verwehrt bleibt. All unsere Bemühungen blieben erfolglos, und so mussten wir schon wieder unseren Anwalt beauftragen, tätig zu werden. Er hat bereits vier Schreiben ans LKA und an die Polizeiführung verfasst – ohne Erfolg. Wir wollen wissen, warum uns als Verbrechensopfern diese Informationen noch immer verwehrt bleiben, denn wir hoffen, dass wir vielleicht doch noch einen entscheidenden Hinweis finden. Es drängt sich für uns die Frage auf, ob man uns etwas verheimlichen möchte oder weitere Fehler zu verschleiern versucht.
Wenn Sie für einen einzigen Tag die Rolle des damaligen Staatsanwalts übernehmen könnten: Welche drei Entscheidungen im Ermittlungsverfahren würden Sie ohne Zögern rückgängig machen?
Ich maße mir nicht an, die Entscheidungen des Staatsanwaltes zu treffen, denn er ist ausgebildeter Jurist, ich nicht. Ich kann allerdings absolut nicht nachvollziehen, dass der Staatsanwalt in seinem Abschlussplädoyer noch immer längst widerlegte Vorwürfe und Behauptungen gegen mich vorbrachte und dann sogar noch die Geschworenen aufforderte, sie sollten mich gefälligst schuldig sprechen. Wörtlich sagte er damals: „Wenn der Angeklagte mit seiner Lüge durchkommt, treibt vielleicht bald die nächste tote Person im Wasser.“ Das ist eine Äußerung, die an Zynismus kaum zu überbieten ist, weil sie alle diejenigen, die einen Angehörigen pflegen, unter Generalverdacht stellt. Das war die Spitze des Eisberges, aber bei Leibe nicht alles, was wir mit dem Staatsanwalt in dieser Zeit miterleben mussten.
Ihr Sohn Leon hatte eine besondere Gabe, sich an kleinen, unscheinbaren Dingen zu erfreuen. Gibt es eine Situation im Alltag, in der Sie heute ganz bewusst „durch die Augen Ihres Sohnes“ schauen — vielleicht an einem Ort, der sonst völlig banal erscheint?
Ich schaue sehr oft durch die Augen unseres Schnuffis. Ich höre mit seinen Ohren und taste mit seinen Fingern. Er ist für mich noch immer sehr nah, und ihn nicht mehr bei uns zu haben, ist der schlimmste Schmerz, den ich mir vorstellen kann. Durch die viel zu kurze Zeit mit unserem Leon ist die Welt für mich eine andere geworden, denn mir sind Dinge bewusst geworden, denen ich früher keine Beachtung geschenkt habe. In Leons Vermächtnis möchte jeden dazu aufrufen, die Welt und die vielen kleinen Wunder, die unsere Natur für uns bereithält, mehr zu schätzen. Leon konnte das wie kein anderer, den ich kenne. Er hat jeden Regentropfen gefeiert und jede Schneeflocke mit seinem unendlichen Strahlen empfangen. Er war von einer Lebensfreude erfüllt, die aus tiefstem Herzen kam, und sie steckte jeden an, der mit ihm Zeit verbringen durfte. Denjenigen zu finden, der für seinen Tod verantwortlich ist, bleibt unsere Lebensaufgabe.
Herr Apler, Danke für das sehr aufschlussreiche Interview und alles Gute für die Zukunft für Sie und Ihre Familie!
Nähere Informationen und die Möglichkeit sachdienliche Hinweise zu hinterlegen finden Sie hier: https://der-fall-leon.at/

Florian Apler
Der Fall Leon
522 Tage unschuldig hinter Gittern
256 Seiten
Hardcover mit SU, 13.5 x 21.5 cm
EUR 25,00
ISBN 978-3-222-15151-4
MOLDEN Verlag
Spricht man in der Justiz in derartigen Fällen von Kollateralschäden, und geht einfach zur Tagesordnung über? Unfassbar das niemand der Verantwortlichen Konsequenzen tragen muss, das für derartig dokumentiertes Fehlverhalten von Staatsanwalt & Co. Steuergeld verwendet wird sollte ebenfalls allen klar sein.
„Er hat jeden Regentropfen gefeiert und jede Schneeflocke mit seinem unendlichen Strahlen empfangen. Er war von einer Lebensfreude erfüllt, die aus tiefstem Herzen kam, und sie steckte jeden an, der mit ihm Zeit verbringen durfte.“ – so wundervolle Erinnerungen.
„Denjenigen zu finden, der für seinen Tod verantwortlich ist, bleibt unsere Lebensaufgabe.“ – ich vermute der Justiz und dem Ermittler*innen Team ist das kein Anliegen mehr, sie wollten nur eine rasche Aufklärung, ohne sorgfältige Arbeit.
R.I.P Leon 🕯️🙏🌈