Ein kühler Wind weht durch den Wiener Park. Eine Person auf einer Bank zieht die Jacke enger, rückt die wenigen Habseligkeiten zurecht, versucht, unauffällig zu wirken. Ein kurzer, unruhiger Schlaf – mehr ist oft nicht möglich. Die Angst vor einer Wegweisung oder einer Strafe wegen Verstoßes gegen die Kampierverordnung ist ein ständiger Begleiter für Menschen, die im Freien übernachten müssen. Dieses Bild prägt oft unsere Vorstellung von Obdachlosigkeit. Doch es ist nur die Spitze des Eisbergs. Viele Menschen ohne eigene Wohnung leben im Verborgenen: Sie kommen kurzfristig bei Freunden oder Verwandten unter, leben in prekären Notunterkünften oder in ungesicherten Wohnverhältnissen.

Die Europäische Typologie für Obdachlosigkeit und Wohnungsausschluss (ETHOS) versucht, dieses breite Spektrum – von der akuten Obdachlosigkeit auf der Straße bis hin zu unzureichendem oder unsicherem Wohnen – zu erfassen und sichtbar zu machen. Hier offenbart sich ein grundlegendes Paradoxon: Der öffentliche Raum ist für Menschen ohne festen Wohnsitz oft der einzige zugängliche Lebensraum neben karitativen Einrichtungen. Gleichzeitig zielen Gesetze und deren Durchsetzung häufig genau darauf ab, ihre Präsenz und die zum Überleben notwendigen Handlungen in diesem Raum zu reglementieren oder zu verbieten. Die schiere Zahl der Betroffenen unterstreicht die Dringlichkeit des Themas: Für das Jahr 2023 wurden in Österreich rund 20.573 Menschen als registriert obdach- oder wohnungslos gemeldet, wobei über die Hälfte davon auf Wien entfiel. Die Dunkelziffer, insbesondere bei versteckter Wohnungslosigkeit, dürfte jedoch weitaus höher liegen.

Dieser Artikel taucht ein in die komplexe Frage, wie Obdachlosigkeit kriminalisiert wird – ein Prozess, der weit über gängige Stereotypen hinausgeht. Ich beleuchte die relevanten Gesetze und Verordnungen, die Praktiken der Exekutive, die tiefgreifenden Konsequenzen für die Betroffenen und ihre Lebenserfahrungen. Es geht darum zu verstehen, wie ein soziales Problem zunehmend durch die Brille des Strafrechts betrachtet wird und welche Alternativen es gibt. Die Unterscheidung zwischen sichtbarer Obdachlosigkeit (Leben auf der Straße, in Notunterkünften) und versteckter Wohnungslosigkeit (temporäre Unterkünfte, unsichere Verhältnisse) hat dabei direkte Auswirkungen darauf, wie Betroffene mit dem Gesetz in Konflikt geraten können. Wer sichtbar auf der Straße lebt, sieht sich eher mit Gesetzen konfrontiert, die die öffentliche Ordnung regeln sollen – wie Bettelverbote oder die Kampierverordnung. Versteckte Wohnungslosigkeit birgt andere rechtliche Risiken, etwa Verstöße gegen das Meldegesetz oder Abhängigkeiten, die ausgenutzt werden können, führt aber seltener zu direkten Konfrontationen wegen „Störung der Ordnung“. Schon der Akt der Definition und Zählung von Wohnungslosigkeit ist mit potenzieller Kriminalisierung verwoben. Offizielle Statistiken basieren oft auf Registrierungen, doch viele Betroffene fallen durch dieses Raster. Das Fehlen einer offiziellen Meldung kann selbst eine Verwaltungsübertretung darstellen und erschwert den Zugang zu Sozialleistungen und Hilfsangeboten, was wiederum die Notwendigkeit von Überlebensstrategien erhöht, die möglicherweise als illegal gelten. Der statistische und definitorische Rahmen beeinflusst somit maßgeblich die Vulnerabilität der Betroffenen.

Mehr als nur „kein Dach“: Obdachlosigkeit in Österreich verstehen

Um die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit zu verstehen, muss man zunächst die Begriffe klären. Im österreichischen Kontext, oft in Anlehnung an die Definitionen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) und des Fonds Soziales Wien (FSW), wird unterschieden: Obdachlosigkeit bezeichnet Menschen, die ohne Unterkunft auf der Straße oder an öffentlichen Plätzen leben und schlafen, oder die in Notquartieren und ähnlichen niederschwelligen Einrichtungen übernachten. Wohnungslosigkeit ist ein breiterer Begriff und umfasst Personen ohne eigene Wohnung, die aber nicht ohne Obdach sind. Sie kommen temporär bei Freund:innen oder Bekannten unter, leben in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe mit begrenzter Aufenthaltsdauer oder in Frauenhäusern. Auch Menschen, die nach einer Haftentlassung oder aus Institutionen wie Spitälern kommen und keine Wohnung haben, gelten als wohnungslos. Diese Unterscheidungen orientieren sich an der international anerkannten ETHOS-Typologie, die Wohnungslosigkeit als ein Spektrum von unzureichender Wohnversorgung begreift.

Die kriminologische Lupe

Eine wichtige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema liefert der kürzlich erschienene „Kriminologischer Beitrag: Obdachlosigkeit und Kriminalisierung“ von Barbara Horten, Christian Steffan, Marisa Weinand und Hauke Brettel. Die im April 2025 in der Fachzeitschrift Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie veröffentlichte Arbeit schließt eine Forschungslücke im deutschsprachigen Raum. Sie geht der zentralen Frage nach, inwiefern sich das Leben ohne eigene Wohnung in Bezug auf Kriminalisierung von einem Leben mit Wohnung unterscheidet.

Die AutorInnen stellen mehrere zentrale Punkte fest:

  • Geringes Interesse und mangelnde Daten: Straftaten von wohnungslosen Personen stoßen bisher selten auf gesellschaftliches, politisches oder wissenschaftliches Interesse. Es fehlen belastbare Daten zu den strafrechtlichen Konsequenzen für diese Gruppe.
  • Opfer und Täter: Wohnungslose Menschen sind nicht nur potenzielle TäterInnen, sondern auch überdurchschnittlich häufig Opfer von Straftaten. Ihre Lebensumstände und der Mangel an sicherem Rückzugsraum erhöhen ihre Vulnerabilität. Dies wurde in Wien durch eine Serie von brutalen Angriffen auf schlafende Obdachlose im Jahr 2023 tragisch verdeutlicht.
  • Überlebensdelikte: Die von wohnungslosen Menschen begangenen Delikte stehen oft in direktem Zusammenhang mit ihren Lebensumständen und Überlebensstrategien. Genannt werden insbesondere das „Schwarzfahren“ (Erschleichen von Leistungen), (Laden-)Diebstahl (oft aus Notwendigkeit), Hausfriedensbruch (bei der Suche nach einem Schlafplatz) und die Verletzung von Unterhaltspflichten. Diese Erkenntnisse stützen sich auch auf frühere Forschungen, etwa von Müller (2006/2023), der die Lebenswelt von Randgruppen untersuchte. Schwerere Straftaten wie Körperverletzung oder Drogendelikte seien seltener, auch wenn viele Betroffene bereits Hafterfahrung haben.
  • Öffentlicher Raum als Konfliktzone: Öffentliche Orte wie Bahnhöfe, Plätze oder Parks sind für wohnungslose Menschen essenziell, doch ihre Nutzung birgt ein hohes Kriminalisierungsrisiko, etwa durch Bettelverbote oder Platzverweise wegen unerlaubten Aufenthalts.
  • Finanzielle Not und Behördenkontakt: Materielle Armut und negative Erfahrungen mit Behörden können dazu führen, dass Betroffene ihnen zustehende Sozialleistungen nicht beantragen, was das Risiko erhöht, zur Existenzsicherung auf illegale Mittel zurückzugreifen. Der Abbruch sozialer Kontakte verstärkt diese Vulnerabilität.
  • Ersatzfreiheitsstrafe: Ein zentraler Punkt ist die Problematik der Ersatzfreiheitsstrafe – die Umwandlung unbezahlter Geldstrafen in Haft. Diese trifft arme und wohnungslose Menschen unverhältnismäßig hart. Studien zeigen einen hohen Anteil von Arbeitslosen und Personen ohne festen Wohnsitz unter denjenigen, die solche Strafen verbüßen.
  • Ganzheitlicher Ansatz gefordert: Die Studie plädiert für eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung, die sowohl ätiologische Aspekte (Ursachen von Kriminalität) als auch labeling-theoretische Perspektiven (Zuschreibungsprozesse) berücksichtigt.

Die Betonung von Delikten wie Schwarzfahren, geringfügigem Diebstahl und Hausfriedensbruch durch Horten stellt eine direkte Verbindung her zwischen dem Zustand der Wohnungslosigkeit (Mangel an Ressourcen, Bedürfnis nach Unterkunft und Mobilität) und spezifischen Arten von kriminalisierten Handlungen. Dies rahmt diese Taten weniger als Ausdruck einer inhärenten Kriminalität, sondern vielmehr als potenzielle Folgen des Fehlens grundlegender Notwendigkeiten. Schwarzfahren (§265a StGB in Deutschland, ähnliche Problematik in Österreich) ergibt sich oft aus dem Mangel an Geld für Fahrkarten, die benötigt werden, um Ämter, Hilfseinrichtungen oder potenzielle Arbeitsstellen zu erreichen. Hausfriedensbruch (§123 StGB in Deutschland) kann bei der Suche nach einem geschützten Schlafplatz vorkommen. Kleindiebstähle (§242 StGB in Deutschland) können durch pure Not motiviert sein. Diese kausale Verknüpfung zwischen dem Zustand der Wohnungslosigkeit und der Art der Delikte ist eine zentrale Erkenntnis, die einfache Narrative von Kriminalität in Frage stellt.

Die Feststellung der Studie, dass wohnungslose Menschen auch häufig Opfer sind, offenbart eine bittere Ironie: Genau die Umstände, die sie verwundbar für Angriffe machen (fehlender Schutzraum, Präsenz im öffentlichen Raum), sind auch die Umstände, die zu ihrer eigenen Kriminalisierung durch den Staat führen. Dies deutet auf ein systemisches Versagen hin, eine vulnerable Bevölkerungsgruppe zu schützen, während gleichzeitig ihre Überlebensstrategien polizeilich verfolgt werden. Der öffentliche Raum, der für das Überleben notwendig ist, setzt sie sowohl physischen Gefahren durch potenzielle TäterInnen aus als auch rechtlichen Gefahren durch die Durchsetzung von Ordnungsgesetzen. Dies schafft eine Zwickmühle, in der die zum Überleben notwendige Umgebung sowohl physisch gefährlich (Viktimisierung) als auch rechtlich riskant (Kriminalisierung) ist.

Der Fokus auf die Ersatzfreiheitsstrafe enthüllt einen Mechanismus, durch den Armut selbst effektiv mit Freiheitsentzug bestraft wird. Dies verwandelt Verwaltungsübertretungen oder geringfügige Delikte in Haftstrafen – spezifisch für diejenigen, die nicht zahlen können. Es entsteht eine Art Schuldgefängnis für die Verletzlichsten. Geldstrafen für Delikte, die unter wohnungslosen Menschen häufiger vorkommen (Schwarzfahren, Betteln, Verstöße gegen Aufenthaltsverbote), können aufgrund von Armut nicht bezahlt werden. Die gesetzliche Konsequenz ist dann oft die Haft. Dies wandelt finanzielle Unfähigkeit direkt in Freiheitsentzug um und zeigt eine systemische Schieflage auf, bei der sich die Art der Strafe aufgrund des Vermögens und nicht aufgrund der Tat selbst ändert.

Wenn Überleben zur Straftat wird: Gesetze und Verordnungen in Wien

In Wien existiert ein Geflecht aus Gesetzen und Verordnungen, die das Leben auf der Straße reglementieren und potenziell kriminalisieren.

  • Die Wiener Kampierverordnung: Diese Verordnung verbietet explizit das Auflegen und Benutzen von Schlafsäcken, das Aufstellen und Benutzen von Zelten sowie das Abstellen und Benutzen von Fahrzeugen zu Wohnzwecken (Schlafen) an öffentlichen Orten außerhalb ausgewiesener Campingplätze. Ausnahmen gelten nur, wenn die Handlung in unmittelbarem Zusammenhang mit einer erlaubten Tätigkeit steht (z.B. Baustelle, genehmigte Veranstaltung). Ein Verstoß ist eine Verwaltungsübertretung und kann mit einer Geldstrafe von bis zu 700 Euro geahndet werden. Diese Verordnung kriminalisiert direkt das Schlafen im Freien – eine Notwendigkeit für akut obdachlose Menschen. Die Strafhöhe wird zwar in der Praxis möglicherweise nicht immer ausgeschöpft, die rechtliche Bedrohung bleibt jedoch bestehen. Dies steht im Kontrast zum Forstrecht, das zwar das Zelten im Wald generell verbietet, aber unter Umständen das alpine (Not-)Biwakieren duldet.
  • Bettelverbote im Wiener Landes-Sicherheitsgesetz (WLSG): Artikel 1 §2 des WLSG verbietet bestimmte Formen des Bettelns an öffentlichen Orten. Dazu zählen aufdringliches oder aggressives Betteln, gewerbsmäßiges Betteln, Betteln als Teil einer organisierten Gruppe sowie das Veranlassen oder Mitführen von unmündigen Minderjährigen beim Betteln. Auch hier droht eine Geldstrafe bis zu 700 Euro oder im Falle der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe von bis zu einer Woche. Das erbettelte Geld kann zudem eingezogen werden.
  • Die Kontroverse um „gewerbsmäßiges Betteln“: Besonders der Tatbestand des „gewerbsmäßigen“ Bettelns ist umstritten. Die vage Definition im Gesetz lässt der Polizei einen breiten Interpretationsspielraum. KritikerInnen sehen darin eine potenzielle Hintertür für ein De-facto-Generalverbot des Bettelns. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat zwar entschieden, dass absolute Bettelverbote, die auch das stille, passive Betteln umfassen, verfassungswidrig sind. Verbote spezifischer Erscheinungsformen wie aggressives, organisiertes oder eben „gewerbsmäßiges“ Betteln wurden jedoch grundsätzlich als zulässig erachtet, sofern sie klar definiert und nachweisbar sind. In der Praxis ist es für Betroffene jedoch oft schwierig, die polizeiliche Einstufung als „gewerbsmäßig“ anzufechten, die manchmal auf bloßen Annahmen basiert (z.B. Herkunft, fehlende Arbeit).
  • Platzverbot und Wegweisung nach dem Sicherheitspolizeigesetz (SPG): Das SPG bietet weitere Instrumente zur Kontrolle des öffentlichen Raumes. §36 SPG ermöglicht der Sicherheitsbehörde, bei (drohender) allgemeiner Gefahr für Leben, Gesundheit oder Eigentum ein Platzverbot für bestimmte Bereiche zu erlassen. Obwohl dies primär für Großgefahrenlagen gedacht ist, besteht theoretisch die Möglichkeit einer breiten Anwendung. Eine spezifische Verordnung der LPD Wien nach §37 SPG wurde vom VfGH als gesetzwidrig aufgehoben. Relevanter für den Alltag wohnungsloser Menschen ist §81 SPG: Dieser erlaubt die Wegweisung als „gelinderes Mittel“ bei Störungen der öffentlichen Ordnung. KritikerInnen bemängeln, dass dies oft gegen Personen eingesetzt wird, deren bloße Anwesenheit oder Erscheinungsbild als störend empfunden wird, selbst wenn sie sich passiv verhalten. Wer einer Wegweisung nicht Folge leistet oder innerhalb von 12 Stunden in den Umkreis von 150 Metern zurückkehrt, riskiert eine Geldstrafe von bis zu 700 Euro.

Die Kombination aus weitreichenden Verordnungen (wie dem Campingverbot) und Instrumenten mit hohem Ermessensspielraum (wie der Wegweisung oder der Auslegung von „gewerbsmäßigem“ Betteln) schafft ein System, in dem die bloße Sichtbarkeit von Armut und Wohnungslosigkeit Anlass für rechtliche Interventionen sein kann, selbst wenn keine traditionellen Straftaten begangen werden. Die Gesetze spiegeln dabei eine gesellschaftliche Spannung wider: Einerseits gibt es die humanitäre Anerkennung, dass etwa stilles Betteln nicht per se verboten werden darf, andererseits besteht ein starkes Bedürfnis nach „öffentlicher Ordnung“ und Ästhetik, das darauf abzielt, sichtbare Armut aus dem Stadtbild zu entfernen. Dieser Konflikt führt zu Gesetzen, die schwer zu interpretieren sind, inkonsistent angewendet werden und potenziell diskriminierende Ergebnisse zeitigen können.

Armut unter Polizeiaufsicht: Durchsetzung und Erfahrungen auf der Straße

Die Gesetze sind das eine, ihre Anwendung im Alltag das andere. Der Ermessensspielraum der Polizei bei der Interpretation von Begriffen wie „gewerbsmäßigem Betteln“ oder „Störung der öffentlichen Ordnung“ bei Wegweisungen ist ein entscheidender Faktor. Berichte aus der Praxis und von Betroffenen legen nahe, dass diese Interpretationen nicht immer neutral erfolgen. Es gibt Hinweise auf Racial Profiling oder eine gezielte Fokussierung auf bestimmte Gruppen, etwa Roma oder Migrant:innen aus osteuropäischen Ländern, die oft pauschal als „organisierte Bettlerbanden“ stigmatisiert werden. Die Polizei in Innsbruck etwa definierte „gewerbsmäßiges Betteln“ unter anderem anhand von Kriterien wie Arbeitslosigkeit, fehlenden Bindungen zu Österreich oder dem Anschein, nur zum Betteln eingereist zu sein – Kriterien, die leicht auf Stereotypen beruhen können.

Die Erfahrungen von wohnungslosen Menschen auf der Straße sind geprägt von diesen Begegnungen. Interviews und Berichte (etwa im Kontext der Wiener Straßenzeitung Augustin oder von Sozialorganisationen) zeichnen ein Bild von ständiger Wachsamkeit, dem Gefühl, beobachtet und unerwünscht zu sein. Viele berichten von wiederholten Wegweisungen, Kontrollen und Strafzetteln, oft verbunden mit respektloser oder herabwürdigender Behandlung. Es gibt zwar auch positive oder neutrale Begegnungen mit einzelnen Beamt:innen, doch das Gefühl der permanenten Bedrohung durch mögliche Sanktionen dominiert oft den Alltag. Dieses Gefühl wird verstärkt durch eine zunehmend „feindliche Architektur“ (hostile architecture) im öffentlichen Raum. Bänke werden so konstruiert, dass man darauf nicht liegen kann (z.B. durch Armlehnen in der Mitte), potenzielle Nischen und Unterstände werden vergittert oder mit Spikes versehen, Grünflächen werden zurückgeschnitten, um Verstecke zu eliminieren. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, den Aufenthalt und das Überleben im öffentlichen Raum für wohnungslose Menschen zu erschweren und sie aus bestimmten Zonen – oft Innenstädten oder touristischen Bereichen – zu verdrängen. Sie machen das Leben nicht nur unbequemer und anstrengender, sondern signalisieren auch unmissverständlich: „Du bist hier nicht erwünscht.“

Die COVID-19-Pandemie hat die prekäre Situation und die Kriminalisierungsmechanismen auf dramatische Weise verschärft. Während des Lockdowns war die Aufforderung „Bleiben Sie zu Hause!“ für Menschen ohne Zuhause eine Unmöglichkeit. Dennoch wurden Betroffene mit hohen Geldstrafen (bis zu 500 Euro) belegt, weil sie sich im öffentlichen Raum aufhielten – ihrem einzigen Lebensraum. Gleichzeitig wurden wichtige Anlaufstellen und Unterstützungsangebote (Essensausgaben, Beratungsstellen, niedrigschwellige Gesundheitsversorgung) eingeschränkt oder waren schwerer zugänglich, was die Notlage weiter verschärfte. Diese Zeit hat die grundlegende Unvereinbarkeit von Maßnahmen, die für eine sesshafte Bevölkerung konzipiert sind, mit der Lebensrealität wohnungsloser Menschen und die daraus resultierenden bestrafenden Konsequenzen brutal offengelegt.

Der Ermessensspielraum der Polizei bei der Durchsetzung vager Gesetze fungiert als ein mächtiges, oft unsichtbares Instrument sozialer Kontrolle, das marginalisierte Gruppen unverhältnismäßig trifft. Systemische Voreingenommenheit kann sich hier unter dem Deckmantel neutraler Rechtsanwendung verbergen. Die „feindliche Architektur“ stellt eine Verlagerung von der direkten polizeilichen Kontrolle hin zu einer umweltbasierten Kontrolle dar. Sie verankert soziale Ausgrenzung im physischen Stadtbild – eine subtilere, aber potenziell allgegenwärtigere Form der Kriminalisierung und Verdrängung.

Der Preis der Strafe: Konsequenzen jenseits des Geldbetrags

Die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit hat weitreichende Folgen, die weit über die unmittelbare Geldstrafe hinausgehen. Ein besonders gravierender Mechanismus ist die bereits erwähnte Ersatzfreiheitsstrafe. Wer eine Verwaltungsstrafe – etwa wegen Bettelns, Verstoßes gegen die Kampierverordnung oder Falschparkens – nicht bezahlen kann, muss ersatzweise eine Haftstrafe antreten. Im Jahr 2021 gab es in Österreich über 5.000 solcher Verwaltungshaftfälle, die überwiegende Mehrheit davon waren Ersatzfreiheitsstrafen. Diese Praxis trifft, wie Horten betont, arme und wohnungslose Menschen überproportional. Während im gerichtlichen Strafrecht oft die Möglichkeit gemeinnütziger Arbeit als Alternative zur Geldstrafe besteht, fehlt diese Option im Verwaltungsstrafrecht häufig. So entsteht ein System, in dem Armut de facto mit Freiheitsentzug bestraft wird.

Aber auch ohne Freiheitsstrafe haben Strafen und die ständige Angst davor negative Auswirkungen. Die Furcht vor Behörden kann Menschen davon abhalten, dringend benötigte Hilfe oder Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Selbst geringfügige Verurteilungen oder Verwaltungsstrafen können einen Rattenschwanz an Problemen nach sich ziehen: Ein Eintrag im Strafregister erschwert die Suche nach Arbeit und Wohnung. Laufende Verwaltungsstrafverfahren oder Schulden können die Anspruchsberechtigung für bestimmte Sozialleistungen oder geförderte Wohnplätze beeinträchtigen. In Wien kann beispielsweise der Verlust oder Wechsel der Meldeadresse zum Verlust eines bereits zugewiesenen Wiener Wohn-Tickets führen. Diese administrativen Hürden, oft eine direkte oder indirekte Folge der Instabilität und der Strafen, die mit Wohnungslosigkeit einhergehen, wirken wie eine unsichtbare Mauer, die den Zugang zu den Ressourcen blockiert, die für einen Ausweg aus der Notlage benötigt werden.

Die gesundheitlichen Folgen sind ebenfalls nicht zu unterschätzen. Der chronische Stress durch ständige Wachsamkeit, Angst vor Strafen und das Gefühl der Ausgrenzung belastet die psychische Gesundheit enorm. Die Angst vor Behörden oder Kosten kann dazu führen, dass notwendige Arztbesuche vermieden werden. Ein fehlender fester Wohnsitz erschwert zudem den Zugang zu einer kontinuierlichen medizinischen Versorgung und Nachsorge.

All dies trägt zu einem Teufelskreis bei: Kriminalisierung führt zu Strafen, die aufgrund von Armut nicht bezahlt werden können. Es droht die Ersatzfreiheitsstrafe. Dies führt zu weiterer Marginalisierung, erschwert die Wohnungs- und Arbeitssuche und damit den Weg aus der Obdachlosigkeit. Die Notwendigkeit, irgendwie zu überleben, erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit, erneut mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Dieser Kreislauf bindet nicht nur die Betroffenen in ihrer prekären Situation, sondern verursacht auch erhebliche gesellschaftliche Kosten – für Polizei, Justiz, Strafvollzug und die Verwaltung der Folgen von Wohnungslosigkeit. Diese Kosten übersteigen wahrscheinlich bei weitem die Investitionen, die für präventive und unterstützende Maßnahmen notwendig wären. Das System der Ersatzfreiheitsstrafe für Verwaltungsdelikte schafft effektiv eine Zwei-Klassen-Justiz: Für dieselbe geringfügige Übertretung zahlt eine Person mit ausreichendem Einkommen eine Geldstrafe, während eine wohnungslose Person ohne finanzielle Mittel mit Freiheitsentzug rechnen muss. Dies untergräbt den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz fundamental.

Jenseits der Strafe: Wege zu Unterstützung und Wohnraum in Wien

Trotz der beschriebenen Kriminalisierungstendenzen verfügt Wien über ein dichtes Netz an Hilfsangeboten für obdach- und wohnungslose Menschen. Der Fonds Soziales Wien (FSW) fungiert als zentrale Planungs- und Förderstelle. Zahlreiche Partnerorganisationen wie die Caritas (mit Einrichtungen wie der Gruft, dem P7-Beratungszentrum, Streetwork, Kältetelefon und Notschlafstellen wie a_way), das Neunerhaus (mit Wohnangeboten, Gesundheitszentrum und mobilen ÄrztInnen), die Volkshilfe (mit der Fachstelle für Wohnungssicherung FAWOS und betreutem Wohnen), der Samariterbund, das Rote Kreuz und kleinere Initiativen wie VinziRast bieten ein breites Spektrum an Unterstützung: von Tageszentren als Rückzugsorte über Notquartiere und betreute Wohnplätze bis hin zu medizinischer Versorgung (z.B. durch den Louise-Bus der Caritas oder die Neunerhaus-ÄrztInnen) und psychosozialer Beratung.

Ein wichtiger Paradigmenwechsel in der Wohnungslosenhilfe ist der Ansatz „Housing First“. Dessen Grundprinzip ist es, Menschen unmittelbar und ohne Vorbedingungen wie Abstinenz oder Therapiebereitschaft Zugang zu einer eigenen, dauerhaften Wohnung zu verschaffen. Die notwendige soziale oder medizinische Unterstützung wird parallel und flexibel angeboten, orientiert sich am Bedarf und an der Wahl der Betroffenen und ist von der Wohnversorgung getrennt. Dies steht im Gegensatz zu traditionellen „Stufenmodellen“, bei denen Betroffene oft mehrere Einrichtungen durchlaufen und erst am Ende der „Treppe“ eine eigene Wohnung in Aussicht gestellt bekommen – ein Prozess, der oft zu Hospitalisierung und dem Verlust von Alltagsfähigkeiten führen kann.

In Wien hat sich Housing First als zentrale Strategie etabliert. Das Neunerhaus startete bereits 2012 ein Pilotprojekt, das sehr hohe Erfolgsquoten bei der langfristigen Sicherung des Wohnraums zeigte (über 90% Wohnstabilität). Der FSW hat Housing First in seine Strategie aufgenommen, und nationale Programme wie „zuhause ankommen“ (gefördert durch das Sozialministerium) unterstützen die Umsetzung in mehreren Bundesländern. Der Erfolg von Housing First hängt jedoch entscheidend von der Verfügbarkeit leistbaren Wohnraums ab – eine der größten Herausforderungen angesichts des angespannten Wohnungsmarktes.

Neben der direkten Hilfe für bereits wohnungslose Menschen ist die Prävention essenziell. Angebote zur Delogierungsprävention, wie die Fachstelle für Wohnungssicherung (FAWOS) der Volkshilfe Wien oder der bundesweite „Wohnschirm“, versuchen, Wohnungsverlust durch Beratung und finanzielle Unterstützung bei Mietrückständen zu verhindern. Jede verhinderte Delogierung spart nicht nur menschliches Leid, sondern auch erhebliche Folgekosten für das Sozialsystem. Dennoch bleiben Herausforderungen bestehen, etwa die Erreichbarkeit spezifischer Zielgruppen wie junger Erwachsener („Care Leaver“) oder Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus und damit ohne regulären Anspruch auf Leistungen der Wohnungslosenhilfe.

Der Erfolg von Housing First stellt die Grundannahme vieler Kriminalisierungsstrategien fundamental in Frage – nämlich die Idee, dass wohnungslose Menschen sich erst durch Verhaltensänderung (z.B. Abstinenz, Arbeitsaufnahme) eine Wohnung „verdienen“ müssen. Housing First zeigt, dass die Bereitstellung stabiler Wohnverhältnisse zuerst oft der effektivste Weg ist, um positive Veränderungen zu ermöglichen und jene Verhaltensweisen zu reduzieren, die mit dem Leben auf der Straße assoziiert werden. Es legt nahe, dass der Mangel an Wohnraum das primäre Problem ist, das gelöst werden muss. Das umfangreiche Netzwerk an Hilfsdiensten in Wien operiert jedoch parallel zu einem System von Gesetzen und einer Exekutivpraxis, die den Zugang zu dieser Hilfe aktiv behindern und zusätzliche Härten schaffen können. Dies deutet auf eine systemische Inkohärenz hin: Während ein Teil des Staates versucht zu helfen, bestraft ein anderer Teil. Eine wirklich effektive Strategie erfordert eine bessere Abstimmung und Kohärenz zwischen Sozial-, Wohnungs- und Sicherheitspolitik.

Den Blickwinkel ändern

Die Auseinandersetzung mit Obdachlosigkeit und Kriminalisierung zeigt: Wohnungslosigkeit ist im Kern ein soziales und ökonomisches Problem, dessen Wurzeln in Armut, Mangel an leistbarem Wohnraum, gesundheitlichen Problemen und sozialen Brüchen liegen. Es ist kein primäres Problem der Kriminaljustiz.

Die Kriminalisierung von Überlebensstrategien – sei es durch spezifische Gesetze wie die Kampierverordnung, die Auslegung von Bettelverboten oder die Anwendung von Platzverweisen – verschärft die Notlage der Betroffenen. Strafen, insbesondere die Ersatzfreiheitsstrafe für nicht bezahlbare Geldstrafen, schaffen zusätzliche Barrieren für den Zugang zu Hilfe, belasten die Gesundheit und sind letztlich kontraproduktiv und teuer. Die Studie von Horten et al. unterstreicht die Notwendigkeit eines differenzierteren Verständnisses, das die Lebensrealitäten wohnungsloser Menschen berücksichtigt.

Es bedarf eines grundlegenden Perspektivwechsels: Weg von der Bestrafung von Armut, hin zu ihrer Bekämpfung. Dies erfordert, Wohnen als Menschenrecht anzuerkennen und den Fokus auf präventive und unterstützende Lösungen zu legen: Ausbau der Delogierungsprävention, Stärkung der sozialen Sicherungssysteme, Sicherstellung eines niederschwelligen Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Schaffung von ausreichend leistbarem Wohnraum und die konsequente Umsetzung von rechtsbasierten Unterstützungsmodellen wie Housing First. Nur durch einen solchen systemischen Wandel kann sichergestellt werden, dass alle Menschen in Würde leben können und niemand aufgrund seiner Armut an den Rand des Rechts gedrängt wird.

Die Frage ist nicht, wie wir unerwünschte Personen aus dem öffentlichen Raum entfernen, sondern wie wir eine Gesellschaft gestalten, in der niemand mehr auf der Straße leben muss!

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