Wie menschliche Wahrnehmung und Erinnerung die Wahrheitsfindung in komplexen Konflikten beeinflussen.
Wenn es im Gerichtssaal darum geht, ob eine Person schuldig oder unschuldig ist, hängt alles an der Beweislage. Doch was passiert, wenn es keine physischen Beweise gibt? Wenn Aussage gegen Aussage steht? Diese Situationen sind nicht nur juristisch, sondern auch psychologisch von größter Bedeutung – und sie offenbaren die Grenzen menschlicher Wahrnehmung und Erinnerung.
Die Schwierigkeit solcher Konstellationen liegt darin, dass die Wahrheitsfindung nicht auf klaren Fakten basiert, sondern auf der Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit der beteiligten Personen. Die Urteilsfindung wird so zu einer hochkomplexen Aufgabe, die sowohl die Unschuldsvermutung als auch das Bedürfnis nach Gerechtigkeit auf eine harte Probe stellt.
Die Natur der Erinnerung: Trügerisch und formbar
Entgegen der landläufigen Meinung ist das menschliche Gedächtnis kein exaktes Archiv, das vergangene Ereignisse unverändert speichert. Vielmehr ähnelt es einem Puzzle, dessen Teile bei jedem Abruf neu zusammengesetzt werden. Psychologische Studien zeigen, dass Erinnerungen durch Stress, Suggestion und Zeit verzerrt werden können. Besonders in emotional belastenden Situationen, wie sie oft mit Aussage-gegen-Aussage-Fällen einhergehen, sind Erinnerungen anfällig für Fehler.
Die renommierte Gedächtnisforscherin Elizabeth Loftus hat gezeigt, wie leicht falsche Erinnerungen implantiert werden können. Bereits geringfügige suggestive Fragen – sei es durch Ermittler oder durch Anwälte – können die Wahrnehmung beeinflussen. Dies ist besonders relevant, wenn es keine objektiven Beweise gibt, die die eine oder andere Aussage untermauern könnten.
Trauma kann ebenfalls die Erinnerung verändern. Während manche Details intensiver gespeichert werden, können andere gänzlich verloren gehen. Dies führt dazu, dass sowohl Opfer als auch Beschuldigte auf unvollständige oder inkonsistente Erinnerungen zurückgreifen, was die Bewertung ihrer Aussagen zusätzlich erschwert.
Die Rolle der Wahrnehmung: Subjektiv und emotional
Auch die Wahrnehmung eines Ereignisses ist keine objektive Erfahrung. Sie wird von individuellen Erfahrungen, kulturellen Hintergründen und kognitiven Mustern geprägt. Zwei Menschen können dasselbe Ereignis miterleben und völlig unterschiedliche Schilderungen abgeben – nicht, weil einer von ihnen bewusst lügt, sondern weil ihre Wahrnehmung unterschiedlich funktioniert.
Hinzu kommt, dass Emotionen eine zentrale Rolle spielen. Eine Person, die wütend oder ängstlich ist, kann Details übersehen oder falsch interpretieren. Gleichzeitig beeinflussen emotionale Ausdrücke, wie starkes Weinen oder aggressive Verteidigung, die Wahrnehmung der Glaubwürdigkeit durch RichterInnen, AnwältInnen und Geschworene. Ein emotional aufgewühlter Zeuge wird oft als authentischer wahrgenommen, selbst wenn seine Aussagen objektiv weniger konsistent sind.
Psychologische Effekte im Gerichtssaal
Der Prozess der Wahrheitsfindung in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen wird zusätzlich durch kognitive Verzerrungen erschwert. Der sogenannte Ankereffekt ist ein Beispiel dafür: Frühere Informationen – etwa Vorurteile über eine der Parteien – beeinflussen unbewusst die Wahrnehmung neuer Aussagen. Dazu kommt der „Illusory Truth Effect“, bei dem häufig wiederholte Aussagen als glaubwürdiger empfunden werden, unabhängig davon, ob sie wahr sind.
Ein weiteres Problem ist die kognitive Dissonanz. Juristische Entscheidungsträger neigen dazu, ihre Überzeugung zu festigen, sobald sie eine Position eingenommen haben. Diese psychologischen Mechanismen führen dazu, dass die objektive Prüfung von Aussagen oft schwerfällt und Vorurteile unbewusst eine Rolle spielen.
Der internationale Kontext: Psychologie und Justiz im Dialog
Internationale Experten betonen die Bedeutung der Psychologie bei der Bewertung von Zeugenaussagen. Die Aussagepsychologie, ein Fachgebiet, das in Ländern wie den USA und Großbritannien seit Jahrzehnten etabliert ist, untersucht systematisch, wie glaubwürdig Aussagen sind. Sie berücksichtigt Faktoren wie Konsistenz, Detailliertheit und emotionale Stabilität.
In Kanada wurde 2015 ein wegweisender Bericht veröffentlicht, der die Rolle von PsychologInnen in der Justiz stärkte. Darin heißt es: „Die menschliche Erinnerung ist keine unfehlbare Quelle der Wahrheit, sondern eine Interpretation der Vergangenheit.“ Dieser Satz unterstreicht, dass die Justiz bei Aussage-gegen-Aussage-Fällen verstärkt auf psychologische Expertise zurückgreifen sollte, um Fehlurteile zu vermeiden.
Auch die Vereinten Nationen fordern in ihren Richtlinien für faire Gerichtsverfahren, dass „wissenschaftliche Erkenntnisse über Wahrnehmung und Erinnerung stärker in den Prozess der Wahrheitsfindung integriert werden.“ Diese Aufforderung zeigt, dass die Problematik weit über nationale Grenzen hinausgeht und eine globale Herausforderung darstellt.
Mögliche Lösungen: Wissen und Empathie
Die Justiz steht vor der Herausforderung, die Subjektivität menschlicher Aussagen zu berücksichtigen, ohne den Grundsatz der Unschuldsvermutung zu verletzen. Dazu müssen Entscheidungsträger geschult werden, um psychologische Mechanismen besser zu verstehen und unbewusste Vorurteile zu minimieren. Zudem könnten technologische Innovationen, wie der Einsatz von KI zur Analyse von Sprachmustern, eine wertvolle Ergänzung sein. Während diese Ansätze noch in den Kinderschuhen stecken, bieten sie Hoffnung, die menschliche Subjektivität zu überwinden.
Letztlich bleibt die Erkenntnis, dass Aussage-gegen-Aussage-Situationen eine der größten Herausforderungen der Wahrheitsfindung darstellen. Sie fordern nicht nur juristische, sondern auch psychologische Sorgfalt und Menschlichkeit. Indem wir die Mechanismen verstehen, die unsere Wahrnehmung und Erinnerungen prägen, können wir Gerechtigkeit stärken und den Betroffenen die Würde zurückgeben, die sie in einem solchen Prozess zu oft verlieren.
Buchtipp
Aussage gegen Aussage in Sexualstrafverfahren, Ein Praxishandbuch für die Strafverteidigung
Springer Berlin, Heidelberg – Hardcover ISBN 978-3-662-70170-6 Erschienen am 28. November 2024
Bei meinen Prozess Beobachtungen, bemerke ich doch auch häufig selbst wie schwer es sein kann, der einen oder anderen Partei Glauben zu schenken. Ein sehr komplexer Prozess ist es meist auch wenn man durch Medien im Vorfeld „manipuliert“ wird. Die Gesellschaft fordert bei speziellen Straftaten bspw. wo Kinder betroffen sind, eine harte Strafe – eine klare emotionale Falle. Genauso verhält es sich bei Straftaten bei denen Frauen betroffen sind, oder die beschuldigte Person.Migration’s Geschichte mitbringt.
Im Österreichischem Recht’s System gilt der Grundsatz „im Zweifel für die Angeklagte(n), dieser muss (sollte) auch bei mangelnder Sachlage immer beachtet werden. Die Einvernahme Situation ist eine besonders sensible Zeit, so manche Geständnisse sind unter sehr dubiosen Zuständen zu stande gekommen, das ist Fakt. Leider werden auch häufig Wiederaufnahme Verfahren entweder nicht behandelt, oder über Jahre hinaus verschleppt, immer wieder kommt es jedoch zu Fehlurteilen, welche Jahre später erst mit hohem finanziellem Aufwand, sowie unter höchster psychischer wie auch physischen Belastungen der Unschuldigen, ans Tageslicht kommen. Das sollte die Gesellschaft bedenken: Jede/Jeder kann in die Lage versetzt werden, plötzlich einer Straftat beschuldigt zu werden.
RichterInnen sollten bedenken: „Weil es das Volk so will“ darf nicht die Wahrheitsfindung beeinflussen.
Ob die KI eine Hilfestellung bieten kann? Ich bin mir unsicher, denn zum einem ist auch bekannter Weise der Einsatz des „Lügendedektors“ oft fehlerhaft, auch ist jeder Fall individuell, und jede Maschine ist nur so gut, wie der Mensch der sie bedient. KI birgt nicht nur Vorteile, die möglichen Gefahren kennen wir noch lange nicht.
Eines ist auch Fakt: Reich sein minimiert den Umstand vor Gericht zu landen, und verurteilt zu werden überproportional.
„Save your self“, denn sonst tut es niemand.