Wie Nichtmeldungen an Strafverfolgungsbehörden, sekundäre Viktimisierung und fehlende Unterstützungssysteme die Lage der Opfer erschweren und welche Lösungen sich abzeichnen.

Jedes Jahr fallen Millionen Menschen in der EU Straftaten zum Opfer – und die Mehrheit dieser Verbrechen bleibt ungemeldet. Laut den neuesten Erkenntnissen der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) berichten 64 % der Betroffenen von physischer Gewalt den Vorfall nicht der Polizei. Diese massive Nichtmeldung an die Strafverfolgungsbehörden untergräbt nicht nur die Chancen auf Gerechtigkeit für Opfer, sondern ermöglicht zugleich Straflosigkeit für Täter und schafft enorme Kosten für die Gesellschaft.

Der Bericht der FRA mit dem Titel „Stepping up the response to victims of crime“ vom November 2024 legt den Finger auf die Wunde der systemischen Defizite im Umgang mit Opfern von Straftaten. Er beleuchtet nicht nur die Herausforderungen, sondern liefert auch praxiserprobte Lösungsansätze, die europaweit umgesetzt werden können. Dabei stehen drei Kernbereiche im Fokus: Erleichterung der Meldung an Strafverfolgungsbehörden, Schutz vor sekundärer Viktimisierung und effektive Unterstützung für Opfer.

Ein wesentlicher Befund des Berichts ist die dramatische Lücke zwischen Gesetz und Lebensrealität. Trotz der Rechte, die Opfern durch die EU-Grundrechtecharta und die Opferrechtsrichtlinie garantiert werden, bleiben viele Straftaten ungemeldet. Die Gründe dafür sind vielfältig:

  • „Die Polizei wird nichts tun“: Ein erheblicher Teil der Betroffenen glaubt, dass ihre Anzeige keinerlei Konsequenzen haben wird. „Ein Drittel der Befragten war der Ansicht, dass es keinen Unterschied machen würde„, so der Bericht.
  • Scham und Angst: Besonders bei sexualisierten Straftaten oder Gewalt in Partnerschaften verhindern Gefühle von Scham und die Furcht vor Racheakten eine Anzeige.
  • Bürokratische Hürden: Viele Opfer empfinden den Prozess als zu aufwendig und belastend.

Die Mehrheit der Opfer von physischer Gewalt, besonders Frauen und Minderheiten, nimmt ihre Rechte nicht in Anspruch,“ betont der Bericht. Um diesem Problem zu begegnen, empfiehlt die FRA die Einrichtung von Drittpartei-Meldestellen. Diese unabhängigen Stellen könnten Anzeigen weiterleiten und Opfern Schutz bieten, ohne dass sie direkten Kontakt mit der Polizei aufnehmen müssen.

Sekundäre Viktimisierung entsteht, wenn Opfer durch das Justizsystem weiterem Leid ausgesetzt sind. Laut FRA fühlen 44 % der Betroffenen, dass die Ermittlungen oder Gerichtsverfahren das Leid eher vergrößert haben. Dabei spielen vor allem zwei Faktoren eine Rolle:

  1. Fehlende Schutzmaßnahmen: Die enge Konfrontation mit dem Täter während der Verfahren belastet die Opfer zusätzlich.
  2. Unzureichende Schulung der Polizei: Fehlendes Verständnis und mangelnde Sensibilität führen zu unangemessenen Reaktionen.

Als Lösung hebt der Bericht das „Barnahus-Modell“ hervor, ein multidisziplinäres System aus Island. Es bietet Kindern, die Opfer von Gewalt wurden, eine umfassende und kindgerechte Betreuung in einer einzigen Einrichtung. Ähnliche Modelle könnten auch für andere besonders verletzliche Opfergruppen eingeführt werden.

Ein weiteres zentrales Problem betrifft die fragmentierte Struktur der Opferhilfe. Viele Opfer wissen schlicht nicht, welche Dienste ihnen zur Verfügung stehen oder haben keinen Zugang zu den notwendigen Ressourcen. Besonders in ländlichen Gebieten fehlen spezialisierte Anlaufstellen. Hier fordert der Bericht:

  • Bessere Koordination der Unterstützungsdienste: Eine staatliche Stelle soll sicherstellen, dass es ausreichend Angebote gibt.
  • Standardisierte Verweismechanismen: Opfer müssen effizient an die richtigen Organisationen vermittelt werden.
  • Akkreditierungssysteme: Die Qualität der Hilfsangebote muss durch klare Standards gewährleistet werden.

Der FRA-Bericht ist mehr als eine Bestandsaufnahme: Er ist ein klarer Handlungsaufruf an Politik, Justiz und Gesellschaft. „Wenn wir das Vertrauen der Opfer in das Justizsystem wiederherstellen wollen, brauchen wir konkrete Maßnahmen, die Schutz, Unterstützung und Zugang zur Gerechtigkeit garantieren“, heißt es im Bericht.

Millionen Menschen in der EU brauchen ein System, das nicht nur existiert, sondern funktioniert. Ein System, das den Opfern eine Stimme gibt – und das Schweigen durchbricht.

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