Missverstandene Worte, eine Spirale der Gewalt – und ein Moment der Versöhnung, der alles verändert.
Der 21-jährige Sohn wurde wegen 2-fachen versuchten Mord angeklagt, dem 46-jährigem Vater wurde unter anderem Nötigung vorgeworfen. Er soll Zeugen des Vorfalls mit einem Messer auf Abstand gehalten haben.
„Ja, ich bin für die Stiche schuldig, aber ich wollte nie jemand töten.“
Was war passiert? Im März 2024 ging der 21-jährige wie immer über den Reumannplatz Richtung elterliche Wohnung. Viele Menschen waren anwesend. Ein weiterer junger Mann blickte in Richtung des Angeklagten und machte einige Schritte auf ihn zu, wobei er vermeintlich etwas in der Art zu ihm sagte wie „Willst du was, brauchst etwas“?
Der 21-Jährige verstand dies als Aufforderung Suchtmittel zu kaufen. Da er mit Drogen jedoch überhaupt nichts am Hut hat, damit nicht einmal in Berührung kommen möchte, sagte er zu seinem Gegenüber „Schleich dich“. Plötzlich ergab sich ein Streitgespräch. Es dauerte nur wenige Momente und schon kam es zur körperlichen Auseinandersetzung, bei der dem Angeklagten Pfefferspray ins Gesicht gesprüht wurde. „Geh nach Hause und wasche dir dein Gesicht, soll der Sprüher zum jungen Mann gesagt haben.
Der Bursche verließ den Ort und ging nach Hause, wo sein Vater sein gerötetes Gesicht und die tränenden Augen bemerkte. Auf Nachfrage des Vaters berichtete er von dem Vorfall. Er sagte auch, wenn es ihm besser geht, dann will er nochmal zum Reumannplatz. Der Vater bemerkte wie zornig sein Sohn war, also sagte er zu ihm, er bleibe lieber zuhause. Einige Zeit später will der Sohn nun doch raus, woraufhin der Vater entscheidet ihn zu begleiten. Am Reumannplatz angekommen, fanden die beiden noch den Kontrahenten vor.
Der Vater ist in der tschetschenischen Community bekannt, unter Jugendlichen gilt er als konstruktiver Konfliktschlichter, unterstützt Jugendliche in allen ihren Fragen und Problemen. Da bislang keine Polizeieinsätze nötig waren, dachte er, auch diesmal könne er in gewohnter Manier den Konflikt lösen. Selbst als Vermittler bei Behörden hatte er bisher häufig Erfolg.
Wenn Worte versagen
In diesem Fall, kam es jedoch zu einem schwerwiegenden und unglücklichen Verlauf. Der Sohn stellte seinen 20-jährigen Kontrahenten zur Rede, der jetzt allerdings einen 19-jährigen Freund dabei hatte. Wieder kam es zur Schlägerei und der Angeklagte gerät in eine Festhaltegriff. Nun zückte er ein Klappmesser mit zehn Zentimeter langer Klinge, womit er sich aus der Umklammerung befreien konnte und dem 19-jährigem einen zehn Zentimeter langen „Streifstich“ (O-Ton Medizinischer Gutachter), knapp neben der rechten Brustwarze zufügte.
Es gibt also ein erstes blutendes Opfer, das sich aber nicht beruhigt. Wie sich die Sache genau abspielte, ist schwierig zu rekonstruieren für alle Beteiligten, jedenfalls greift der ursprüngliche Pfeffersprayer wieder in das Geschehen ein. Der Angeklagte fühlt Angst, möchte die Gegner kampfunfähig machen, wie er bei Gericht angibt. Nicht zuletzt, da durch den Lärm weitere Menschen zum Tatort laufen, einige bewaffnet mit Stangen oder Flaschen. Es bildet sich ein enger Kreis um Vater, Sohn und die beiden Gegner. Der Pfeffersprayer kommt auf Sohn und Vater zu, der bereits ebenfalls ein Messer in der Hand hält.
Der 46-Jährige nimmt seinen Sohn jedoch am Arm und sie versuchen zu flüchten. Dabei werden sie verfolgt, einer oder mehrere der Umstehenden werfen Flaschen, wovon eine den Sohn trifft. Der bleibt daraufhin kurz stehen, spürt einen Schlag und sticht auf den Freund des ersten Opfers ebenfalls in Brusthöhe ein. Dieser wird nach kurzer Zeit bewusstlos.
Eine Notfallmedizinische Versorgung durch Rettungskräfte ist die Folge und die beiden blutenden Verletzten werden in ein Spital gebracht. Mittlerweile ist auch die Polizei vor Ort. Die Beamten klären die Lage mit einiger Anstrengung, schließlich war eine erhebliche Zahl an Menschen anwesend und die Situation war unübersichtlich und aufgeheizt, da die Schaulustigen den Einsatz behinderten.
Bilanz der Auseinandersetzung

Foto: K.C.Wolfram
Vier direkt Beteiligte, rund 50 Personen im unmittelbaren Umfeld, davon zwei Schwerverletzte. Eines der Opfer, ein 19-jähriger Syrer, musste im Spital wiederbelebt werden. Er verbrachte 14 Tage im Krankenhaus. Der Gerichtsmediziner spricht in diesem Fall von lebensbedrohender Verletzung. Vater und Sohn landen in Untersuchungshaft. Im Herbst 2024 folgt der Prozess: Die Staatsanwaltschaft klagt Vater und Sohn an, unter anderem wegen Nötigung, den Sohn wegen 2-fachen Mordversuchs, da sie eine Tötungsabsicht zu erkennen meint.
Der Anwalt, Florian Kreiner, leistet gute Verteidigung. Kreiner arbeitet die belastenden Vorwürfe exakt aus. Er überzeugt die acht Geschworenen davon, dass es sich in beiden Fällen um keine Mordversuche handelt, auch die Rolle des Vaters konnte er relativieren. Es bedurfte allerdings mehrere Stunden Beratung, bis sich die Geschworenen der Argumentation des Anwaltes anschlossen.
Das nicht rechtskräftige Urteil für den Sohn: Absichtliche schwere Körperverletzung in zwei Fällen. Dem 46-jährigen Vater billigten die Geschworenen ‚gerechtfertigte Notwehr in einer Nötigungssituation‘ zu.
Dieses Urteil kommt jedoch bei den drei BerufsrichterInnen nicht gut an. Sie befinden, die Geschworenen hätten sich geirrt. Der Prozess geht in den 2. Rechtsgang, bedeutet Wiederholung. In der Zwischenzeit wird der Vater aus der Untersuchungshaft entlassen.
Im Februar 2025 wird der Prozess gegen den Sohn mit gleicher Anklage neu ausgetragen. Nur der Sohn als Angeklagter? Was ist mit dem Vater, fragen sich die anwesenden ZuhörerInnen? Der ist nur noch Zeuge. Die Staatsanwaltschaft sah keine ausreichende Beweislage mehr, und zog die Anklage zurück.
Es kommt für alle Anwesenden im vollbesetzten Gerichtsaal zu einer Szene, die man vermutlich sehr selten sieht. Nach Beendigung der Befragung steht der Angeklagte auf, geht mit offenen Armen in Richtung Opfer und eine gegenseitige Umarmung folgt. Der junge Syrer, dem wie dem zweiten Opfer auch ein Dolmetscher bei Gericht beigestellt werden musste, signalisiert noch mit Handzeichen zum Herz, dass er die Entschuldigung annimmt und verlässt den Gerichtsaal.
Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Dieses Mal geht es schneller: nach nur rund zwei Stunden entscheiden die Geschworenen, wie schon beim ersten Prozess, auf absichtliche schwere Körperverletzung in zwei Fällen.
Das rechtskräftige Urteil: Viereinhalb Jahre Haft sowie Schmerzensgeld an beide Opfer von 2.130 Euro sowie 5.390 Euro.
Der vorsitzende Richter Böhm betonte die Sinnlosigkeit der Tat. Der Täter habe aus gekränktem Stolz gehandelt. Bei einem Strafrahmen von zwei bis zehn Jahren erschienen dem Gericht viereinhalb Jahre Haft als angemessen. Mildernd wurde die bisherige Unbescholtenheit des mittlerweile 22-jährigen Tschetschenen berücksichtigt sowie der Umstand, dass er das Zustechen zugab und nicht versuchte, sich auf Notwehr rauszureden.
Anmerkung
In Folge gehäufter Messerstechereien in dieser Umgebung wurde im Frühjahr 2024, also erst nach diesem Vorfall, ein Waffenverbot für diesen Bereich eingeführt. Dieses wird in verschiedenen Abständen geprüft, bisher wurde es einmal verlängert und gilt auch heute. Einigen anfänglichen Medienberichten zufolge, hätte es sich um einen Konflikt der Nationalitäten gehandelt. Unfug – Vielmehr ging es wie so oft, um eine fehlende Kompetenz für eine versöhnliche Konfliktlösung unter Jugendlichen.
Das mangelnde Vertrauen in staatliche Organisationen, falsches Rechtsbewusstsein, Sprachbarrieren, aber auch Angst spielten eine von der medialen Öffentlichkeit wenig beachtete Rolle.
Die versöhnliche Geste zwischen dem Täter und dem Opfer hat mich berührt und Hoffnung gegeben, dass alle Beteiligten für ihr Leben gelernt haben, wenn auch zu einem hohen Preis. Konflikte sind nicht mit Waffen und Gewalt zu lösen, denn damit gibt es nur Verlierer.
Es war völlig sinnlos, sagte auch der Täter abschließend. Weiters entschuldigte er sich bei den Geschworenen, dass sie wegen ihm Zeit verschwenden mussten. Mit gesenktem Kopf wurde er vorbei an den zahlreich anwesenden Familienangehörigen abgeführt.