Ein wissenschaftlich fundierter Praxis-Theorie-Transfer, der die Lebensrealitäten von Kindern Inhaftierter beleuchtet. Basierend auf biografischen Interviews und Fallanalysen zeigt dieser Beitrag die Herausforderungen, Stigmatisierung und Bewältigungsstrategien betroffener Kinder auf und diskutiert Ansätze für eine bessere interdisziplinäre Unterstützung.
Ausgangssituation
„Gefangen weil ein Elternteil gefangen ist und die Gesellschaft schnell richtet und niemals vergisst. Doch vergessen wird, dass es Kinder sind, die diese Ereignisse und Erlebnisse zerfrisst“ (Kind eines Inhaftierten, Bilal 2025)
In der Bundesrepublik Deutschland sind schätzungsweise ca. 100.000 Kinder von einer Inhaftierung ihres Elternteils betroffen (vgl. Auridis-Stiftung.de) und 42.492 Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in den Justizvollzugsanstalten in Deutschland inhaftiert (vgl. destatis.de). Kinder von inhaftierten Eltern stellen eine oft vernachlässigte Gruppe in unserer Gesellschaft dar, die mit erheblichen emotionalen und sozialen Belastungen konfrontiert ist. Das einleitende Zitat eines betroffenen Kindes verdeutlicht den tiefen Wunsch, gehört zu werden. Diese Kinder möchten nicht nur stillschweigend unter den Folgen der Inhaftierung ihres Elternteils leiden, sondern haben auch das Bedürfnis, ihre Erfahrungen zu teilen und sichtbar zu werden. Es liegt eine umfangreiche Anzahl von Studien und wissenschaftlichen Beiträgen vor, die sich intensiv mit den Themen Sozialisation, Biografien, delinquentes Verhalten und der Resozialisierung straffällig gewordener Personen befassen.

Im Gegensatz dazu wird den Angehörigen insbesondere den Kindern der straffällig gewordenen Personen häufig nur begrenzte Aufmerksamkeit zuteil. Vielmehr werden sie in der öffentlichen, medialen und politischen Wahrnehmung häufig in einen Kontext zu den Straftaten ihrer Lebenspartner*innen oder anderer nahestehender Personen gestellt, was zu einer Stigmatisierung und einer einseitigen Betrachtung ihrer Situation führt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die zentrale Fragestellung: Welche Erlebnisse und Herausforderungen haben Angehörige von Inhaftierten? Sie sehen sich nicht nur mit der räumlichen Distanz und emotionalen Belastung konfrontiert, einen inhaftierten Verwandten zu haben, sondern werden zudem gesellschaftlich oft in Verbindung mit dem straffälligen Verhalten ihrer Angehörigen betrachtet. Diese Wahrnehmung hindert eine differenzierte Sichtweise, die Angehörige als potenzielle Ressource für die gesellschaftliche Wiedereingliederung der Inhaftierten anzuerkennen.
Obwohl nach der Förderalismusreform 2006 in den jeweiligen Vollzugsgesetzen der Bundesländer und auch in der Vollzugspraxis ein zumindest etwas höherer Stellenwert eingeräumt: Beispiel § 18 Abs. 2 StVollzG NRW: „Der Kontakt zu Angehörigen, insbesondere zu minderjährigen Kindern der Gefangenen, und anderen Personen, von denen ein günstiger Einfluss auf die Gefangenen zu erwarten ist, wird besonders gefördert“ und die rechtliche Definition von Angehörigen im Kontext des Strafrechts im § 11 Abs. 1 des Strafgesetzbuches klar umrissen wird: „Verwandte und Verschwägerte gerader Linie, der Ehegatte, der Lebenspartner, der Verlobte, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner der Geschwister, Geschwister der Ehegatten oder Lebenspartner, und zwar auch dann, wenn die Ehe oder die Lebenspartnerschaft, welche die Beziehung begründet hat, nicht mehr besteht oder wenn die Verwandtschaft oder Schwägerschaft erloschen ist“. Diese rechtlichen Definitionen verdeutlichten die Vielfalt der Beziehungen, die unter den Begriff der Angehörigen fallen, und legt den Grundstein für eine tiefere Auseinandersetzung mit deren Erfahrungen und Herausforderungen. Aus diesem Grund hat sich der vorliegende Beitrag das Ziel gesetzt, diese Thematik als Praxis-Theorie-Transfer zu behandeln. Sowohl der gemeinnützige Verein OYA e.V. den die Autorin als praktisches Beispiel zur Unterstützung Betroffener gegründet hat, wird vorgestellt. Als auch die biografischen Erfahrungen von Angehörigen, insbesondere von Kindern Inhaftierter, die im Rahmen einer Forschungsarbeit der Autorin untersucht und die Auswirkungen dieser Erfahrungen auf die Lebensbewältigung der Betroffenen analysiert.
Ziel und Zielgruppe der Untersuchung
Das zentrale Forschungsziel dieser Studie bestand darin, die Lebensgeschichten von Kindern (ehemaliger) Inhaftierter zu rekonstruieren. Dabei wurden Einblicke in ihre biografischen Entwicklungen sowie in die spezifischen Strategien ihrer Lebensbewältigung gewonnen. Die Methode des biografisch-narrativen Interviews erwies sich als besonders geeignet, da sie den Interviewpartnerinnen ermöglicht, frei und ohne Einschränkungen in Form einer „Stegreiferzählung“ (Glinka 2009, S. 9) die für sie bedeutenden Aspekte ihrer Lebensgeschichte darzulegen. Diese qualitative Methode fokussiert sich nicht auf die Häufigkeit des Auftretens bestimmter sozialer Phänomene, sondern basiert vielmehr auf einer Logik des Verallgemeinerns aus dem Einzelfall heraus (Rosenthal 2011, S. 13). Bei der Auswahl der Befragten war das entscheidende Kriterium, dass sie Kinder von Inhaftierten oder ehemaligen Inhaftierten sind.
Fallvergleiche
Kinder von Inhaftierten erfahren häufig keine angemessene Unterstützung in Bezug auf die Herausforderungen, die sich aus den Inhaftierungen ihrer Eltern ergeben. Sie sehen sich sowohl gesellschaftlichen als auch familiären Erwartungen gegenüber, oft ohne dies aktiv zu wollen. In der Folge tendieren sie dazu, ihre kognitiven Erfahrungen unreflektiert zu nutzen, um eigene Lösungsansätze zu entwickeln. Dies kann sich in abweichendem Verhalten oder sogar in straffälligen Handlungen manifestieren, die als Bewältigungsmechanismen fungieren. Die Analyse der Interviews zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in der Entwicklung der Bewältigungsstrategien der Befragten, die durch unterschiedliche Lebensereignisse geprägt sind. Während eine Interviewte in der Schule gemieden oder gemobbt wird, gelingt es einer anderen, Anschluss zu ihren Mitschülern zu finden. Diese variierenden Erfahrungen verdeutlichen die Komplexität der Bewältigungsmechanismen, die Kinder in belastenden Situationen entwickeln.
In der vorliegenden Untersuchung wird deutlich, dass Kinder von Inhaftierten in der Schule häufig das Gefühl der Ausgrenzung und Stigmatisierung erleben. Diese Isolation wird durch die Inhaftierung ihrer Elternteile verstärkt, was zu emotionalen Belastungen führt. Eine der Befragten beschreibt ihre Erfahrungen wie folgt: „Damals konnte ich garnicht nachdenken weil die Menschen hatten auch kein Mitleid mit mir das ich nicht mehr zu Schule gegangen bin wegen denen und geweint habe“. Die Auswirkungen dieser Erfahrungen betreffen nicht nur die betroffenen Kinder selbst, sondern auch ihre Geschwister. So berichtet eine Teilnehmerin: „meine Schwester, ungefähr 10 Jahre alt, wurde stark gehänselt und gemobbt, da ihre Kameraden älter waren und die Eltern den Kontakt verboten haben“. Um ihre Geschwister zu schützen, übernimmt eine der Befragten eine schützende Rolle ein: „Ich wollte niemals, dass meine Geschwister das erleben was ich erlebt habe und die haben das auch nicht erlebt. Die wurden nicht so gemobbt weil ich die immer beschützt habe vor sowas“. Zusätzlich erfahren die Kinder Diskriminierung und Rassismus in der Schule. Eine Interviewte schildert: „Ja, in der Schule habe ich dann auch durch den Lehrer Rassismus erfahren. Das N-Wort“. Diese Erfahrungen führen oft zu sozialer Isolation und psychischen Herausforderungen/ Erkrankungen, wie eine Interviewte angibt: „in der Schule war ich immer voll müde und nicht bei der Sache. Ich weiß auch, dass ich Depressionen hatte”. Trotz dieser Herausforderungen gelingt es den Interviewten, ihre schulischen Ziele zu erreichen. Eine Interviewte berichtet über ihre weiteren Ziele und im Kontext zum straffälligen Verhalten ihres Vaters: „dann habe ich mein Abitur bestanden und wollte auch gerne Jura studieren und vieles verstehen von meinem Papa damals“. Dabei sind sie häufig auf sich allein gestellt: „In der Schule habe ich eigentlich gut mitgemacht. Ich habe früh gelernt, alleine meine Hausaufgaben zu erledigen meine Mutter ist eine gebildete Frau aber da Sie nur am Arbeiten war konnte sie mir nicht helfen bei meinem Lernprozess“. Darüber hinaus zeigen einige der Interviewten während ihrer Schulzeit kompensatorisches straffälliges Verhalten. Dies äußert sich in vermehrten Fehlzeiten, Alkoholkonsum und Diebstahlsdelikten. Eine Interviewte beschreibt ihre Abkehr von der Schule: „Dann habe ich angefangen zu klauen, nicht mehr zur Schule gegangen und auch garnicht mehr anwesend gewesen“. Auch Gewaltanwendungen gegenüber Dritten sind festzustellen: „In der Schule wollte keiner mit mir chillen oder hat über mich geredet oder irgend etwas anderes weil jeder wusste die „gestörte“ wird kommen und wird mir eine reinhauen und gut ist“. Diese Ergebnisse verdeutlichen die komplexen Herausforderungen, mit denen Kinder von Inhaftierten konfrontiert sind, und die weitreichenden Auswirkungen auf ihre schulische und soziale Entwicklung.
Die nächtlichen polizeilichen Einsätze können ebenfalls zu einer Beeinträchtigung der sozialen Entwicklung beitragen. Zudem das Risiko für psychische Auffälligkeiten, sowie mögliche Traumata erhöhen. Diese können oft als Folge von Isolation und belastenden Erlebnissen, die mit der Festnahme oder Inhaftierung eines Elternteils zusammenhängen entstehen. Eine der Interviewten beschreibt ihre Erlebnisse, wie folgt: „Ich war fünf oder sechs, als mein Stiefvater festgenommen wurde. Ja, die Polizei hat die Tür aufgerammt, also nicht ganz aufgerammt, aber doch aufgerammt. Ich und meine Schwester haben damals in einem Doppelzimmer gelegen und beobachtet, wie sie meinen Vater weggenommen haben. Und das war für mich eine Sache, die ein großes Loch hinterlassen hat, weil ich ihn sehr, sehr geliebt habe“. Es ist wirklich bedauerlich, dass solche Vorfälle das Sicherheitsgefühl von Kindern so stark beeinträchtigen können. Die Erfahrungen, die sie machen, können tiefgreifende Auswirkungen auf ihr Vertrauen in staatliche Institutionen „ich hatte davor noch nie Kontakt mit der Polizei und ich weiß noch, wie der Beamte zu mir gesagt hat: „Geh doch mal deinen Bruder umarmen.“, aber ich hatte Handschellen an. Anschließend habe ich ihn angeguckt und ich hatte noch mehr Hass gegen die Polizei“ und ihre emotionale Gesundheit haben. „Dann sind die reingekommen mit Maschinengewehr mit rotem Licht integriert, damit haben die jeden angezielt“, das Zitat zeigt eindrücklich, wie verwirrend und beängstigend solche Situationen für Kinder sind.

Das Sicherheitsgefühl der betroffenen Kinder wird signifikant durch die erlebte häusliche Gewalt, die vom Vater vor seiner Inhaftierung ausgeübt wurde, ebenfalls beeinträchtigt. Eine Interviewte beschreibt die Situation wie folgt: „Und dann kam mein leiblicher Vater irgendwann ins Spiel, der die Gewalt mitbrachte. Von da an wurden wir misshandelt. Ich, meine Schwester, meine Mutter. Mein Bruder kam 1993 zur Welt und er bekam alles mit. Wir mussten zur Schule gehen mit Narben. Wir hatten immer Abdrücke auf dem Rücken durch Gürtelschläge oder andere Misshandlungen“. Darüber hinaus war die Mutter ebenfalls von den gewaltsamen Übergriffen ihres Ehemanns im Beisein der Kinder betroffen: „Ja, mein Vater brachte sehr viel Gewalt, die Polizei war fast jeden zweiten Tag bei uns zu Hause. Meine Mutter wurde richtig misshandelt, sie hat viele Narben am Körper“. Die familiäre Gewalt erstreckte sich über den häuslichen Bereich hinaus und war begleitet von weiteren strafbaren Handlungen, die vom Vater ausgingen: „Mein Vater wurde gesucht wegen Drogenhandel und Dokumentenfälschung. Ein internationaler Haftbefehl wurde ausgestellt. Er verließ das Land und war auf der Flucht“. Nach der Festnahme eines Elternteils sehen sich die betroffenen Kinder mit einer Vielzahl prekärer Lebenssituationen konfrontiert, die die Eltern-Kind-Beziehung erheblich belasten. Sie werden mit der alleinerziehenden Mutter Rolle konfrontiert, die mehrere Aufgaben gleichzeitig übernehmen muss: als Bindungs- und Bezugsperson, als Versorgerin sowie als Haushaltsführerin. Diese Mehrfachbelastung stellt für viele Mütter eine erhebliche Herausforderung dar, insbesondere im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf „Meine Mutter war sehr fleißig, sie hat viel gearbeitet“ und Familie „Es war schlimm, das Leid meiner Mutter zu sehen. Ich war damals sehr sensibel, und es hat mich sehr traurig gemacht“. Aufgrund dessen übertrugen sie teilweise ihre Verantwortung auf die weiteren Kinder, wie eine Interviewte berichtet: „Ab dem Moment, als er weg war, war meine Kindheit vorbei. Da hieß es, jetzt bist du erwachsen, du hast Geschwister, du musst Verantwortung übernehmen. Meine Mutter konnte das nicht anders regeln, weil sie arbeiten musste“.
Darüber hinaus mussten sie sich für das straffällige Verhalten ihrer Elternteile gegenüber ihren Peergroups verantworten müssen bzw. wurden aufgrund dessen diffamiert „dadurch, dass mein Vater inhaftiert wurde, habe ich meine ganzen Freunde verloren. Die haben mich alle gemobbt und gesagt: „Dein Vater ist kriminell, wir dürfen nicht mit dir spielen.“. Das haben die immer zu mir gesagt, ich war immer das Mobbingopfer“. Andererseits erhalten sie jedoch auch die ihnen erforderliche Unterstützung und ein starkes Zugehörigkeitsgefühl in den Peergroups: „Ich hatte auch einen Kreis kennengelernt, wo nur kaputte Leute waren (…). Weil wir hatten alle eine Sache, die uns belastet hat, und keiner hat ein perfektes Leben sozusagen gehabt, und ich hab mich da so wohlgefühlt, weil ich da nicht die ‚andere‘ war. Weil da hab ich mich angenommen gefühlt, weil keiner mich verurteilt hat“. Darüber hinaus berichten drei von sechs Interviewten über ihre Erfahrungen mit kriminellen Verhaltensweisen, die sie während ihrer Schulzeit innerhalb ihrer Peergroups gemacht haben. Diese Verhaltensweisen umfassen ein Spektrum, das von Drogenhandel über Diebstahl bis hin zu schwerer Gewalt reicht. Eine der Interviewten beschreibt ihren Einstieg in den Drogenhandel folgendermaßen: „Und irgendwann haben wir angefangen, selber Drogen zu verkaufen“. Darüber hinaus beschreiben die Interviewteilnehmenden auch strafbare Handlungen wie Einbrüche„Bin Einbrecher geworden“ und Raubüberfälle. Eine weitere Interviewteilnehmende reflektiert das eigene gewalttätige Verhalten: „Ich habe mich sehr viel gehauen. Ich habe mich durch Gewalt mir mal Respekt geschaffen“ bis hin zu Raubtaten „ganz am Ende habe ich mich selber gefunden, dass ich ein Räuber geworden bin. Also mit-also das war dann so-irgendwann ist es zu meiner Leidenschaft geworden, Raub zu begehen. Irgendwann hat Schlägereien nicht mehr gereicht. Dann kam Messerstechereien. Ich wurde mehrmals angestochen. Nach Messerstecherei kam- ging es immer weiter, immer höher. Dann kamen Schusswaffen“.
Anhand der fallvergleichenden Ergebnisse wird deutlich, dass die sozialen Konflikte, die schulischen Erlebnisse, die fehlende gesellschaftliche Anerkennung, der Beziehungsabbruch zu dem inhaftierten Elternteil und der fehlende emotionale Rückhalt der alleinerziehenden Elternteile dazu beitragen, dass die Befragten versuchten ihr Leben zunehmend mit abweichenden bis hin gesetzwidrigen Verhalten (Gewalt,-Drogen,-Diebstahlsdelikten, Radikalisierung) um ihre herausfordernden Erlebnisse zu bewältigen, wodurch sie Anerkennung erhielten.
Praxis-Theorie-Transfer: Kinder Inhaftierter und OYA e.V.
Kinder von inhaftierten Eltern befinden sich aufgrund ihrer Erfahrungen in einem vulnerablen Kreislauf, der durch soziale Benachteiligung und emotionale Überforderung gekennzeichnet ist. Die mit der Inhaftierung eines Elternteils verbundenen Erfahrungen führen bei allen Interviewten vermehrt zu abweichendem Verhalten in der Schule, welches von den Lehrkräften häufig nicht erkannt wird. Diese negativen Zuschreibungen werden von den betroffenen Kindern internalisiert, was ihr abweichendes Verhalten weiter verstärkt und zu einem Rückzug aus sozialen und schulischen Kontexten führt.
Kinder von inhaftierten Eltern benötigen umfassende Unterstützung, Beratung und Begleitung, um mit ihren Erfahrungen umzugehen. Diese Begleitung sollte sowohl vor, während als auch nach der Inhaftierung erfolgen. Insbesondere vor der Haft ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Kinder- und Jugendhilfe in die erlassenen Gerichtsbeschlüsse, wie etwa bei Hausdurchsuchungen, einbezogen wird. Dies gilt insbesondere für Durchsuchungen, die zu später Stunde stattfinden trotz bestehender UN-Kinderrechtskonvention Artikel 3 Abs. „(1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ findet das Wohl der betroffenen Kinder wenig Beachtung. Die betroffenen Kinder empfinden häufig eine Behandlung, die sie als vergleichbar mit der von Straffälligen wahrnehmen, und berichten, dass sie mit ihren potenziell traumatisierenden Erlebnissen oft allein gelassen werden. Darüber hinaus wird deutlich, dass aufgrund dieser Einsätze das Vertrauen und das Sicherheitsgefühl der Kinder beschädigt werden. In diesem Kontext ist die Kooperation zwischen der Polizei und der Kinder- und Jugendhilfe von zentraler Bedeutung, um adäquate Unterstützung zu gewährleisten. Während die Polizei Strafverfolgung und Gefahrenabwehr als primäre Aufgaben ausführt, muss die Kinder-Jugendhilfe ihrem gesetzlichen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdungen (§ 8a SGBVIII) nachkommen. Das Wohl der Kinder wird während u.a. nächtlicher Wohnungsdurchsuchungen massiv gefährdet, weil es vor ihren Augen zu physischer oder psychische Gewalt kommen kann. Hier können Fachkräfte der Kinder-Jugendhilfe den wohlmöglichen traumatisierenden Erlebnissen vorbeugend begegnen, indem sie die Kinder räumlich in solchen Einsätzen trennen und emotional betreuen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der Polizei und Sozialen Arbeit sollte daher in gemeinsamen Lehrveranstaltungen (während des Studiums, Ausbildung) oder Fortbildungen erörtert werden. Die bisherigen möglichen Vorurteile können durch solch eine Zusammenarbeit abgebaut und die Möglichkeit bieten, sich mit der Handlungsfeldern der „Kinder-Jugendhilfe“ und den spezifischen Aufgabengebieten der Polizei sowohl theoretisch als auch praktisch auseinanderzusetzen. Dadurch können ein gemeinsamer Arbeitsprozess und ein gegenseitiges Arbeitsverständnis entstehen der die interdisziplinäre Zusammenarbeit fördert.
Während der Haftzeit sollte ebenfalls eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der Justiz, Straffälligen-/Angehörigenhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe erfolgen, um das Wohlbefinden dieser Kinder zu gewährleisten. Gemäß § 8a SGB VIII obliegt es der Kinder- und Jugendhilfe, das Kindeswohl zu prüfen und sicherzustellen. Diese Verantwortung umfasst die Notwendigkeit, „(…) nach fachlicher Einschätzung erforderlich ist, sich dabei einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und von seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen“ (ebd.). Die Aufgabe, eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls zu evaluieren und sicherzustellen, liegt somit in der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe (Jugendamt) oder des Familiengerichts und nicht bei einer Justizvollzugsanstalt. Das Ziel einer Justizvollzugsanstalt ist im § 5 NJVollzG definiert: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe sollen die Gefangenen fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“ (gesetze-im-internet.de). Zugleich dient der Vollzug der„Freiheitsstrafe dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ (ebd.). Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit sollte zwischen den Fachkräften der Kinder-Jugendhilfe, Straffälligen-/Angehörigenhilfe und Justiz erfolgen, um eine psychischen Stabilisierung bei den Kindern hervorzurufen und gleichzeitig die Resozialisierung zu fördern. Ein begleiteter Umgang während der Besuchszeiten kann dazu beitragen die emotionalen Barrieren zwischen den betroffenen Kindern und dem inhaftierten Elternteil abzubauen. Die Kinder- und Jugendhilfe ist hier aufgefordert, solche Unterstützungsmaßnahmen anzubieten, wie z.B. die sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGBVIII), um die bisherigen und bevorstehenden Ereignisse zu mit den Sorgeberechtigten und Kindern zu erörtern. Viele Elternteile erscheinen mit der alleinerziehenden Rolle teilweise überfordert, weil sie die älteren Kinder manchmal als Vater- oder Mutterersatz in die Verantwortung einbeziehen. Sie fühlen sich dann gegenüber ihren jüngeren Geschwistern in allen Lebenslagen verantwortlich.
In der Diskussion um die Resozialisierung von Inhaftierten wird oft über die Notwendigkeit von Maßnahmen innerhalb der Justizvollzugsanstalten gesprochen. Gemeinnützige Vereine wie OYA e.V. spielen hierbei eine entscheidende Rolle, indem sie fortlaufend Angehörigenmaßnahmen anbieten. Diese Programme sind nicht nur für die Inhaftierten von Bedeutung, sondern auch für deren Angehörige, die häufig unter den Folgen der Inhaftierung leiden. Ein zentraler Aspekt dieser Maßnahmen ist die Möglichkeit für Inhaftierte, sich kritisch mit ihrem straffälligen Verhalten auseinanderzusetzen. Durch gezielte Reflexion können sie die Auswirkungen ihres Handelns auf ihre Angehörigen verstehen. Viele Familienmitglieder fühlen sich durch die Inhaftierung ihrer Partner*innen mitgefangen. Dies geschieht oft, weil Inhaftierte unbewusst Erwartungen an ihre Angehörigen entwickeln, die diese emotional unter Druck setzen. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Angehörige in Vollzugsplankonferenzen einbezogen werden, die sind entscheidend für Entscheidungen über den weiteren Verlauf des Strafvollzugs, einschließlich vorzeitiger Entlassungen. Oftmals stehen Angehörige vor der Herausforderung, ablehnende Entscheidungen des Strafvollzugs nicht nachvollziehen zu können. Eine Einbindung in diesen Prozess könnte dazu beitragen, Missverständnisse abzubauen und das Vertrauen zu stärken. Insgesamt zeigt sich, dass die Partizipation von Angehörigen in den Justizvollzugsanstalten nicht nur zur Unterstützung der Inhaftierten beiträgt, sondern auch zur Stärkung der Bindungen.

Förderung des Austauschs zwischen ehemaligen Inhaftierten, Kindern von Inhaftierten und angehenden Fachkräften in der Sozialen Arbeit sind bedeutend. Nach der Haftzeit ist es von entscheidender Bedeutung, dass ehemalige Inhaftierte sowie (ehemals) Kinder von Inhaftierten an Hochschulen die Möglichkeit erhalten, ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit angehenden Fachkräften zu erörtern. Die Autorin hat hierzu ein Hochschul-Poetry-Slam-Format ins Leben gerufen, das darauf abzielt, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen und den Austausch zwischen Studierenden, Kindern von Inhaftierten und ehemaligen Inhaftierten zu fördern. Durch diese Plattform werden die angehenden Fachkräfte für die spezifischen Herausforderungen sensibilisiert, mit denen Kinder von Inhaftierten und ehemalige Inhaftierte konfrontiert sind. In Lehrveranstaltungen berichten die (ehemals) Betroffenen über ihre biografischen Erlebnisse sowie ihre Erwartungen an die zukünftigen Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Diese Begegnungen ermöglichen es den Studierenden, sich wissenschaftlich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das sie zuvor oft als blinden Fleck wahrgenommen hatten. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Initiative ist der Praxis-Theorie-Transfer, der durch Exkursionen in Justizvollzugsanstalten unterstützt wird. Hierbei erhalten die Studierenden Einblicke in die vollzuglichen Strukturen und führen Gespräche mit Inhaftierten. Diese Erfahrungen tragen dazu bei, ein tieferes Verständnis für die Lebensrealitäten der Betroffenen zu entwickeln. Zusätzlich hat die Autorin im Rahmen einer Lehrveranstaltung einen fiktiven Besuchsraum für Kinder im Strafvollzug nachgestellt. Gemeinsam mit den Studierenden – darunter angehende Sozialarbeiter*innen, Kindheitspädagog*innen und Heilpädagog*innen – wurden zunächst die Erlebnisse mit einem Kind eines Inhaftierten erörtert sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen kennengelernt. Anschließend gestalteten die Studierenden den Raum z.B. mit gemalten Bildern (Spielsachen). Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit erwies sich als äußerst hilfreich und förderte nicht nur das Verständnis für die Bedürfnisse der betroffenen Kinder, sondern auch die Entwicklung empathischer Kompetenzen bei den angehenden Fachkräften. Insgesamt zeigt dieses Projekt auf eindrucksvolle Weise, wie wichtig der Austausch zwischen verschiedenen Akteuren im Kontext des Strafvollzugs ist und welche positiven Effekte dies sowohl für die Betroffenen als auch für die angehenden Fachkräfte hat. Dadurch werden die angehenden Fachkräfte sensibilisiert und lernen diverse kreative Methoden kennen, um die Kommunikation mit Betroffenen zu erreichen
Eine Studierende verfasste im Rahmen einer Lehrveranstaltung folgendes Gedicht:
In einer Welt voller Unterschiede und Schicksale,
Habe ich gelernt, die Psyche der Menschen besser zu verstehen.
Jeder hat seine eigenen Bedürfnisse und Träume,
Verurteilen bringt uns nicht weiter, es ist Zeit zu verstehen.
Jeder verdient eine zweite Chance, das ist klar,
Ein respektvoller Umgang ist wichtig, das ist wahr
Lasst uns auf Augenhöhe begegnen, mit offenem Herz,
denn jeder Mensch hat eine Stimme verdient
So geht es weiter mit Kindern von Inhaftierten
Sie sind die stillen Opfer, unschuldig und allein,
ausgeschlossen, fern vom Sonnenschein.
Sie können nichts dafür, was ihre Eltern getan,
Doch tragen sie die Last, die Scham und den Bann.
(Liz Peschmann 2025)
Schlussfolgerung
Die Zusammenarbeit zwischen der Justizvollzugsanstalt, der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Straffälligen- und Angehörigenhilfe wurde bislang in fachlicher, politischer und medialer Hinsicht unzureichend initiiert und begleitet. Es besteht ein dringender Bedarf an einer interdisziplinären Kooperation dieser Institutionen, um bedarfsgerechte (präventive) Angebote zu schaffen. Eine verbindliche Kooperationsvereinbarung zwischen allen Beteiligten ist notwendig, um sowohl kurzfristige als auch langfristige Handlungsstrategien zu entwickeln. Die Begleitung, Unterstützung und Beratung der Inhaftierten sowie ihrer Angehörigen, insbesondere der Kinder, sollte als Querschnittsaufgabe verstanden und im Rahmen gemeinsamer Workshops kontinuierlich weiterentwickelt werden. An dieser Stelle sind Justiz- und Jugendpolitik gefordert, um diese interdisziplinäre Netzwerkarbeit voranzutreiben, da keine der einzelnen Institutionen in der Lage ist, die Auswirkungen allein zu bewältigen. Durch regelmäßige Ausschusssitzungen können die relevanten Themen fortlaufend erörtert und passgenau aufbereitet werden. Es ist zu betonen, dass die verschiedenen Professionen in ihren jeweiligen Zuständigkeits- und Interessensbereichen eigenständig handeln, obwohl eine engere Zusammenarbeit erforderlich wäre, um eine effektivere Wirkung zu erzielen. Insgesamt kann durch institutionelle Netzwerkarbeit ein koordiniertes Präventions- und Reaktionssystem etabliert werden, das insbesondere eine frühzeitige Unterstützung von Kindern ermöglicht. Darüber hinaus sind wissenschaftliche Studien notwendig, um die Erfahrungen der Angehörigen insbesondere der Kinder vor, während und nach der Haftzeit aufzuzeigen und auf dieser Grundlage notwendige Unterstützungsmaßnahmen weiterzuentwickeln.

Die Autorin
Prof. Dr. Selin Arikoglu (Katholische Hochschule Berlin)
(Ehemalige Sozialarbeiterin/-pädagogin in der Justizvollzugsanstalt Uelzen, dem Jugendstrafvollzug Hameln und dem Jugendamt Hannover)
2011-2021 Kommunalpolitikerin (Jugendhilfeausschuss, Gleichstellungsausschuss, Integrationsausschuss, Personal und Organisationsausschuss)
2014-2022 Lehrende u.a. in der HAWK Holzminden, der FH Hannover und der Uni Hildesheim mit der Thematik Straffälligkeit (Rolle der Sozialen Arbeit im Strafvollzug, Beratung im Strafvollzug, Migration und Delinquenz), Case Management etc.
Seit 2018 Beirätin in der Justizvollzugsanstalt Hannover und Sehnde
Gründerin Initiatorin Vorsitzende des Vereins OYA e.V.