Künstliche Intelligenz (KI) hält zunehmend Einzug in die rechtsmedizinische Praxis. Was vor wenigen Jahren noch nach Science-Fiction klang, ist heute Teil erster Pilotprojekte – von der virtuellen Obduktion bis zur automatisierten Altersdiagnostik. Doch was kann KI tatsächlich leisten? Wo liegen Chancen und Risiken? Und wie verändert sie die Rolle der Sachverständigen? Ein Überblick über aktuelle Entwicklungen und den Stand der Dinge im deutschsprachigen Raum.
Objektiv, schnell, lernfähig: KI in der virtuellen Autopsie
Moderne Bildgebung ist aus der Rechtsmedizin nicht mehr wegzudenken. Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT) unterstützen klassische Obduktionen und liefern hochaufgelöste Daten, die KI-Systeme analysieren können. Dabei erkennen Algorithmen z. B. Hirnblutungen, Frakturen oder typische Lungenveränderungen bei Ertrinkungsfällen mit hoher Präzision. Auch die Einschätzung der Schussdistanz anhand von Wundfotos oder die Detektion versteckter Verletzungen gehört bereits zum Repertoire erster Prototypen.

Altersdiagnostik neu gedacht
In der forensischen Altersbestimmung kommt KI vor allem bei der Analyse von Röntgenbildern zum Einsatz – etwa von Handknochen oder Kieferregionen. Deep-Learning-Modelle liefern dabei objektive Altersabschätzungen und könnten langfristig klassische Verfahren wie Greulich-Pyle ergänzen. Wichtig bleibt eine sorgfältige Validierung, insbesondere weil diese Gutachten oft rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, beispielsweise in der Fragestellung des tatsächlichen Alters von unbegleiteten Minderjährigen Personen auf der Flucht.
Effizienzgewinn in der Gutachtenpraxis
Neben der Bildauswertung bietet KI auch Unterstützung bei administrativen Aufgaben: Sie kann Befunde strukturieren, Literaturhinweise zusammenstellen oder sogar erste Textentwürfe generieren. Auch biometrische Vergleiche – etwa bei der Identifikation unbekannter Toter – lassen sich durch KI beschleunigen. Entscheidend ist jedoch: Die finale Bewertung muss immer in menschlicher Hand bleiben.
Zwischen Technik und Ethik: Herausforderungen im Einsatz
Mit der Einführung von KI in der Rechtsmedizin sind hohe Anforderungen verbunden: Die Systeme müssen zuverlässig, nachvollziehbar und frei von systematischen Verzerrungen sein. Das sogenannte „Blackbox-Problem“ – also die mangelnde Erklärbarkeit vieler KI-Entscheidungen – steht einer gerichtsfesten Nutzung derzeit oft im Weg. Zudem fehlen klare juristische Vorgaben, wer bei Fehlern haftet und wie KI-gestützte Analysen als Beweismittel zu behandeln sind.
Vorsicht, aber keine Angst: Wege zur praktischen Umsetzung
Im deutschsprachigen Raum sind Datenschutzauflagen hoch, und viele rechtsmedizinische Institute verfügen noch nicht über die nötige Infrastruktur oder Datentiefe, um eigenständig KI-Systeme zu trainieren. Doch erste Pilotprojekte, interdisziplinäre Kooperationen und nationale Forschungsverbünde zeigen: Der Weg ist vorgezeichnet. Schulungen, Leitlinien und offene Fehlerkulturen könnten den Boden für eine sachgerechte Nutzung bereiten.
Ausblick: Mensch und Maschine – ein starkes Team
KI wird die Arbeit von RechtsmedizinerInnen nicht ersetzen, aber ergänzen. Sie übernimmt zeitraubende Routinetätigkeiten, erkennt Muster in großen Datenmengen und liefert wertvolle Hinweise, wo der Mensch genauer hinsehen sollte. Entscheidend ist, dass sie als Werkzeug verstanden wird – nicht als Ersatz für forensische Erfahrung, Urteilskraft und ethisches Verantwortungsbewusstsein.