Zwischen Trauma und Hoffnung – Wie Europa seine Schutzsysteme für Kinder stärkt, und was noch zur Vermeidung familiärer Gewalt zu tun ist.
Ein ganz normaler Albtraum: Lenas Geschichte
Jedes Mal, wenn der Vater nach Hause kam, zuckte Lena zusammen. Sie war sieben, als sie zum ersten Mal ihre Mutter weinen sah. Nicht, weil sie gefallen war, sondern weil der Mann, der sie angeblich liebte, sie mit den Worten „Das hast du jetzt davon“ gegen die Küchentür stieß. Lena versteckte sich dann im Kleiderschrank, zählte die Schritte im Flur, drückte sich die Ohren zu. Als die Polizei zum dritten Mal kam, wurde er weggewiesen, für zwei Wochen. Doch was passierte danach mit Lena?

Systeme unter Druck: Die rechtliche Ausgangslage in Österreich
In Österreich sind Fälle wie dieser Alltag. Kinder, die häusliche Gewalt miterleben, sind keine Randnotiz. Sie sind Mitbetroffene. Studien zufolge erleben etwa ein Drittel aller betroffenen Frauen Gewalt im Beisein ihrer Kinder. Das österreichische Gewaltschutzgesetz erlaubt es der Polizei, gewalttätige Partner sofort aus der Wohnung zu weisen, ein wichtiges Signal, aber allein nicht ausreichend. Denn was oberflächlich als schneller Schutz erscheint, ist oft erst der Anfang eines langen Weges. Die unmittelbare Gefahr mag gebannt sein, doch die seelischen Wunden bleiben, und nicht immer werden Kinder wie Lena in den Mittelpunkt gerückt.
Gewaltschutzexpertin Maria Rösslhumer kennt das Problem: „Gewalt und Missbrauch im Kindesalter hinterlassen tiefe Narben im Gehirn, sie können sogar das Erbgut verändern. Zahlreiche WissenschaftlerInnen weisen darauf hin, dass diese Kinder öfter erkranken als gesunde Kinder und das Altern beschleunigen.„
Von der Wegweisung bis zur Fallkonferenz: Was passiert nach der Gewalt?
Der Ablauf nach einem Polizeieinsatz wegen häuslicher Gewalt ist in Österreich klar geregelt: Wird ein Gefährder weggewiesen, verständigt die Polizei automatisch das zuständige Gewaltschutzzentrum. Besteht der Verdacht, dass Kinder im Haushalt leben, wird zusätzlich die Kinder- und Jugendhilfe informiert. Diese prüft in einer sogenannten Gefährdungsabklärung, ob das Kindeswohl beeinträchtigt ist. Innerhalb von 14 Tagen muss der Täter zudem eine Gewaltpräventionsberatung absolvieren. Gleichzeitig ist es Aufgabe des Gewaltschutzzentrums, Kontakt mit der betroffenen Person aufzunehmen, sie zu unterstützen und weitere Schritte abzustimmen – etwa in Richtung eines gerichtlichen Schutzauftrags oder eine Fallkonferenz anregen
In interdisziplinären Fallkonferenzen, ein zentraler Baustein des österreichischen Bedrohungsmanagements, sitzen VertreterInnen von Polizei, Jugendamt, Gewaltschutzzentrum, Gericht und Täterarbeit gemeinsam an einem Tisch. Sie tauschen Informationen aus, bewerten die Gefährdungslage und entwickeln ein gemeinsames Schutzkonzept. Diese Fallkonferenzen,werden vor allem in Hochrisikofällen von der Exekutive einberufen und können wesentlich dazu beitragen, Gewaltspiralen zu unterbrechen.
Baustellen im System: Wo Österreich noch nachschärfen muss
Dennoch zeigen sich in der Praxis strukturelle Schwächen: Fachleute kritisieren, dass nicht alle Bundesländer die Fallkonferenzen konsequent einsetzen und dass die Beteiligung der Jugendämter teils zu spät erfolgt. Auch werden Kinder noch zu selten als eigenständige Opfer wahrgenommen. In manchen Regionen fehlen spezialisierte Kinderschutzbeauftragte, und die psychosoziale Unterstützung für betroffene Kinder ist oft nicht flächendeckend gewährleistet. Es mangelt an niedrigschwelligen Anlaufstellen, insbesondere im ländlichen Raum, und an kindgerechter Diagnostik zur Erfassung psychischer Folgeschäden.
Eine weitere Schwäche im System ist auch, dass die Kinder- und Jugendhilfe als gesetzliche Vertreter für das Kindeswohl in Österreich die Möglichkeit hätte, eine Einstwillige Verfügung (EV) gegen einen gewalttätigen Elternteil zu verhängen, aber diese Maßnahme so gut wie nie anwendet. Das führt dazu, dass Kinder der Gewalt weiterhin ausgesetzt sind.
Ein weiteres zentrales Problem ist die gerichtliche Praxis im Obsorgerecht. Noch immer kommt es vor, dass Gerichte trotz dokumentierter Gewalt einen regelmäßigen Umgang mit dem gewaltausübenden Elternteil anordnen – oftmals ohne vorherige kindgerechte Risikoeinschätzung. Dabei belegen zahlreiche Studien, dass der Kontakt zu einem gewalttätigen Elternteil ohne therapeutische Aufarbeitung für das Kind retraumatisierend wirken kann. Fachstellen fordern daher eine rechtliche Klarstellung, wonach bei familiärer Gewalt der Umgang ausschließlich begleitet und unter Wahrung der Kindesinteressen erfolgen darf.

Hoffnung durch Praxis: Was bereits funktioniert
Ein Sozialarbeiter aus Wien schildert: „Manche Täter sind einsichtig. Andere kommen nur, weil sie müssen. Aber selbst dann lernen sie oft, was sie ihren Kindern angetan haben.“ Das verpflichtende Gewaltpräventionsprogramm für Weggewiesene ist ein weiterer Baustein. Binnen zwei Wochen nach dem Polizeieinsatz müssen die Täter an einem sechsstündigen Beratungsgespräch teilnehmen, und werden dort mit der Realität konfrontiert, dass ihre Gewalt nicht nur die Partnerin trifft, sondern auch die Kinder.
Lenas Mutter zog mit ihrer Tochter in ein Frauenhaus. Dort arbeiten Fachkräfte nicht nur mit den Müttern, sondern auch intensiv mit den Kindern. „Sie sagen oft nichts – aber ihre Zeichnungen sprechen Bände“, berichtet eine Pädagogin. In Kinderschutzgruppen in Spitälern, die gesetzlich vorgeschrieben sind, werden Hinweise auf Misshandlung oder Vernachlässigung professionell erkannt und dokumentiert. Die enge Vernetzung mit der Kinder- und Jugendhilfe ermöglicht schnelles Handeln. Dennoch berichten Fachleute von Engpässen: Es braucht mehr geschulte Fachkräfte, mehr Zeit für Gespräche mit Kindern, mehr Räume für kindgerechte Aufarbeitung.

Foto: Ferdinand Germadnik
„Kinder die familiäre Gewalt erleben, entweder direkt oder indirekt – in dem sie Gewalt an der Mutter miterleben müssen, weisen viele unterschiedliche Verhaltensweisen auf: Sie reden kaum über ihre Gewalterlebnisse, weil sie Angst vor weiterer Gewalt haben, nicht wissen wer ihnen helfen kann, fühlen sich verantwortlich und schuldig und verhalten sich angepasst, weil sie den Eltern keinen Ärger machen wollen. Manche Kinder werden wütend, zornig, aggressiv, traurig oder stark launenhaft. Andere ziehen sich zurück, werden ruhiger und immer introvertierter. Sie verstecken ihren Kummer, weil ihnen die Situation zu Hause peinlich ist. Andere hören auf zu essen, weil sie besorgt sind, oder verletzen sich selbst, weil sie den Druck nicht mehr ertragen Schlafstörungen, Einnässen, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Leistungsabfall gehören ebenfalls zu den Verhaltensweisen. Vielen Kinder verlieren ihre FreundInnen, weil sie niemanden einladen dürfen.„, weiß Maria Rösslhumer und zeigt die Auswirkungen der Gewalt auf.
Das umstrittene Obsorgerecht Kinderschutz versus Elternrecht
Besonders herausfordernd ist der Umgang mit dem Besuchsrecht. Der Wunsch des Staates, das Kind solle Kontakt zu beiden Elternteilen haben, kollidiert oft mit dem Schutzbedürfnis des Kindes. Fachleute fordern, dass bei häuslicher Gewalt der Umgang grundsätzlich nur begleitet erfolgen darf – und auch dann nur, wenn das Kind sich sicher fühlt.
Lernen von den Nachbarn: Impulse aus Deutschland und der Schweiz
Österreich kann dabei einiges von Deutschland und der Schweiz lernen. Während Deutschland mit Projekten wie „Kinder im Frauenhaus“ zeigt, wie spezialisierte pädagogische Angebote Kindern helfen, das Erlebte zu verarbeiten, überzeugt das Netzwerk BIG in Berlin mit seinem klar strukturierten Ansatz: Polizei, Jugendhilfe und Justiz arbeiten eng verzahnt, um Gewaltspiralen frühzeitig zu durchbrechen. Die Schweiz wiederum zeigt, wie konsequenter Kindesschutz aussieht: Dort können Kindesschutzbehörden nicht nur Sofortmaßnahmen ergreifen, sondern auch Täter verpflichten, an Gewalttrainings oder Elternkursen teilzunehmen. Besonders beeindruckend ist die Konsequenz im Umgangsrecht: Wenn ein Kind als gefährdet gilt, wird der Kontakt zum gewaltausübenden Elternteil unterbunden – solange, bis eine fachlich gesicherte Einschätzung vorliegt. Zudem liefern Pilotprojekte zur Gewaltfrüherkennung in Kinderarztpraxen ein vorbildliches Modell für Prävention im Alltag, das Österreich adaptieren könnte.
Was bleibt zu tun?
Was in allen drei Ländern klar ist: Es braucht das Zusammenspiel von Gesetz, Institutionen und Menschlichkeit. Kinder wie Lena dürfen nicht vergessen werden, nur weil sie still sind. Ihr Schweigen ist kein Einverständnis, sondern ein stiller Hilfeschrei. Und dieser darf nicht ungehört verhallen.
Österreich hat mit seinen systemischen Fallkonferenzen, der Täterarbeit und der engen Einbindung von Kinderschutzgruppen wichtige Schritte gesetzt. Doch die Beispiele aus den Nachbarländern zeigen: Es gibt noch Luft nach oben. Entscheidend ist, dass das Kindeswohl nicht nur mitgedacht, sondern ins Zentrum aller Maßnahmen gestellt wird. Das bedeutet auch: Jedes Kind muss das Recht haben, sicher und gewaltfrei aufzuwachsen, unabhängig davon, wie gut die Eltern sich verstehen.
Rösslhumers schlussfolgert: „Familiäre Gewalt pflanzt sich fort, wenn sie nicht unterbrochen wird. Burschen, die sich mit der väterlichen Gewalt identifizieren, übernehmen und übertragen es in die eigene Beziehung, Mädchen werden oft unbewusst wieder Opfer von Partnergewalt. Familiäre Gewalt hat gravierende nachhaltige und negative Auswirkungen auf die Gesundheit und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.„
Ein neuer Anfang: Wie es Lena heute geht
Lena lebt heute mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung in einem anderen Bezirk. Sie hat einen Therapieplatz, besucht regelmäßig eine Kindergruppe für Gewaltbetroffene und ist wieder gerne in der Schule. Ihre Klassenlehrerin sagt, sie lacht inzwischen öfter, spielt wieder mit anderen Kindern. Wenn sie heute Türen hört, die knallen, zuckt sie manchmal noch zusammen – aber sie weiß: Es gibt Menschen, die sie schützen. Und eine Mutter, die bei ihr bleibt. Und das macht den Unterschied.
Anlaufstellen bei familiäre Gewalt finden Sie hier: https://www.gewaltinfo.at/