„Jetzt erst Recht“ hat sich mit dem Abolitionismus beschäftigt, der Abschaffung von Gefängnissen. Der Podcast ist eine Produktion des Legal Labs für Jura und Journalismus der Uni Leipzig unter der Leitung von Prof. Dr. Elisa Hoven.
Hallo und herzlich willkommen zur heutigen Folge von „Jetzt erst Recht“. Die heutige Folge ist etwas Besonderes. Bisher haben wir uns vor allem mit aktuellen Problemen und Herausforderungen des Strafrechts beschäftigt.
Meistens ging es da um die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten strafbar ist oder sein sollte. In der heutigen Folge wollen wir jedoch mal einen Schritt zurück gehen und uns mit der Frage beschäftigen, ob es denn überhaupt richtig ist Menschen so zu bestrafen wie wir es zurzeit tun.
Das deutsche Erwachsenenstrafrecht kennt zwei Sanktionsarten, wenn Personen Straftaten begangen haben: die Freiheitsstrafe im Gefängnis und die Geldstrafe. Wir wollen uns in dieser Folge vor allem der Freiheitsstrafe widmen. Für die Meisten ist es selbstverständlich, dass Menschen, die gegen Strafgesetze verstoßen bestraft werden. Auch wenn das bedeutet, dass sie ins Gefängnis müssen.
In Deutschland gab es im Jahr 2022 172 Strafvollzugsanstalten, in denen insgesamt ca. 56.000 Menschen inhaftiert sind. Ihre Vergehen reichen von nicht bezahlten Geldstrafen für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrschein zu schweren Gewalttaten.
Es gibt auch erhebliche Kritik an diesem Strafsystem. KritikerInnen sind der Auffassung, dass insbesondere die derzeitige Gefängnisstrafe ethisch nicht zu rechtfertigen ist. Die Kritik bezieht sich dabei entweder insgesamt auf die Strafe als Institution oder lediglich den Vollzug durch Geld- und Freiheitsstrafe. Diese KritikerInnen nennen sich „Abolitionisten“ und um den sogenannten Abolitionismus, also die Abschaffung und Reform des Strafens geht es in dieser Folge.
Der Begriff „Abolitionismus“ hat seinen Ursprung im Lateinischen und kommt vom Wort abolitio, was so viel wie „Abschaffen“ bedeutet. Historisch hat der Begriff seine Wurzeln im Kampf für die Abschaffung der Sklaverei.
Heute ist er aber auch ein Oberbegriff für Positionen, die entweder für eine grundlegende Reform des Strafrechts eintreten, oder sogar dessen Abschaffung fordern. Um den Abolitionismus besser verstehen zu können, haben wir mit dem Rechtssoziologen Prof. Dr. Johannes Feest gesprochen. Er war bis 2005 Professor für Strafrecht und Strafverfolgung und ist im deutschen Raum Experte für abolitionistische Forderungen. Was Abolitionismus für ihn bedeutet, das hat er uns in einem Interview erklärt:
Der Abolitionismus als die radikale Ablehnung als menschenunwürdig erkannter Institutionen. In der Vergangenheit war das die Sklaverei, die Folter, die Todesstrafe und so kann man weitere als gesellschaftliche Institutionen als menschenunwürdig erkennen. Und das heißt auch, es ist ein Prozess, das ist relativ und hängt davon ab, was in der Gesellschaft als menschenunwürdig erkannt wird. Da sind im Laufe der letzten 100 Jahre auch die Strafanstalten in diesen Fokus gerückt, als potentiell abschaffungsbedürftige.
Prof Feest hat 2019 ein Manifest zur Abschaffung von Gefängnissen veröffentlicht. Darin fordert er unter anderem, dass die Zivilgesellschaft und der Staat über andere Reaktionsweisen auf Kriminalität nachdenken müssten, als Straftäter einfach wegzusperren.
Prof. Dr. Feest weist dabei auf ein häufiges Missverständnis hin. Die meisten Abolitionisten wollen die derzeitigen Strafarten zwar abschaffen oder reformieren, jedoch sind sie sich größtenteils einig, dass Straftaten nicht einfach reaktionslos hingenommen werden sollen.
Es scheint auch mir jedenfalls selbstverständlich, dass wir auf sozial unerträgliches Verhalten reagieren wollen und sollen. Die Frage ist nur: wie?
Abolitionisten wie Prof. Feest hinterfragen also lediglich, ob es richtig ist, dass der Staat Menschen für Straftaten in Gefängnissen wegsperrt. Sie behaupten, dass insbesondere die Freiheitsstrafe die an sie gestellten Anforderungen nicht erfüllt.
Um das zu verstehen muss man sich zunächst mit den Grundlagen des Strafens beschäftigen.
Das Thema der Strafe scheint ein grundsätzliches Menschheitsthema zu sein. Schon in der biblischen Geschichte von Adam und Eva taucht das Motiv bekanntlich auf. Adam und Eva werden für das Essen vom Baum der Erkenntnis mit dem Rauswurf aus dem Paradies bestraft. Auch im Alltag und in sozialen Beziehungen spielen kleinere Bestrafungen eine Rolle. So gibt es etwa Sanktionen für den Verstoß gegen Spielregeln beim Sport oder wenn bei einer Abschlussprüfung getäuscht wurde. Menschliche Strafbedürfnisse zeigen sich in vielen unterschiedlichen Situationen. Der Freiheitsentzug in Gefängnissen zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass der Staat tätig wird, der im Gegensatz zu den BürgerInnen an die Grundrechte gebunden.
Der Freiheitsentzug von Personen ist ein massiver Eingriff in viele Grundrechte, vor allem der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 des Grundgesetzes. Diese Eingriffe können zwar gerechtfertigt sein, jedoch sind die Hürden hier sehr hoch. Vor allem muss die Bestrafung einen legitimen Zweck verfolgen und grundsätzlich eine angemessene Reaktion darstellen.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1977 entschieden, dass durch den Freiheitsentzug die Gesellschaft vor sozialschädlichem Verhalten bewahrt und die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens geschützt werden sollen. Das Strafrecht selbst soll Personen vor Verletzungen schützen. Der Staat hat hier eine Schutzpflicht gegenüber den BürgerInnen, die sich ebenfalls aus dem Grundgesetz ergibt.
Wir haben Prof. Dr. Kölbel gefragt, was das genau bedeutet und wie sich die staatliche Bestrafung selbst rechtfertigen lässt. Er ist Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Ludwig-Maximilians Universität München.
Sie lässt sich dadurch rechtfertigen, dass sie eine grundlegende Leistung erbringt. Die Existenz des Strafrechts sorgt für eine gewisse Kanalisierung und Mobilisierung der Konfliktbearbeitung. Das wirkt zunächst einmal zivilisierend da es Rachezyklen und Gewalteskalationen ausschließt. Das ist eine große zivilisatorische Leistung der Institution des Strafrechts. Strafrecht sorgt auch für eine gewisse Eingrenzung gesellschaftlicher Macht. Auch wer wirtschaftlich oder politisch mächtig ist, kann durch das Strafrecht nicht tun und lassen was er will.
Dennoch benötigt der Staat eine Begründung dafür, dass eine Verletzung von Rechten durch BürgerInnen zur Folge hat, dass in Grundrechte der TäterInnen eingegriffen wird. Dabei ist schon immer umstritten welchen Zweck die Strafe eigentlich verfolgt.
Wir haben Dr. Thomas Galli gefragt, welche Strafzwecke diskutiert werden. Er war bis 2015 Leiter verschiedener Justizvollzugsanstalten in Deutschland und gilt heute als einer der schärfsten Kritiker des deutschen Strafsystems.
Der Strafvollzug ist mit Erwartungen und Anforderungen eigentlich überfrachtet. Es wird alles mögliche hineininterpretiert und erwartet. Wie zB Vergeltung, Schuldausgleich, Abschreckung, Sicherheit der Allgemeinheit, Resozialisierung und Prävention. Man kann alles mögliche erwarten und hineininterpretieren und es ist schwer zu sagen welche Erwartungen davon erfüllt werden.
Auch das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass viele Strafzwecke zusammen herangezogen werden sollen. Es gehe beim Zweck der Strafe um Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung. Vor allem Prävention und Resozialisierung spielen in der Rechtspraxis eine sehr wichtige Rolle.
Wie Dr. Thomas Galli gehen KritikerInnen davon aus, dass diese Strafzwecke in der Praxis überhaupt nicht erreicht werden und die Strafe deshalb die an sie gestellten Anforderungen überhaupt nicht erfüllt. Neben der erhofften Resozialisierung der TäterInnen gehört es zu den größten Erwartungen, dass die Strafe abschreckend auf den Täter und die Allgemeinheit wirken soll.
Zum einen soll den Gefangenen durch die Gefängnisstrafe signalisiert werden, dass sich die Begehung von Straftaten nicht lohnt, indem ihm ein Übel zugefügt wird. Der Staat will den Täter also für die Zukunft abschrecken.
Allerdings ist nicht nur der Täter selbst Adressat der der Abschreckung, sondern auch die Allgemeinheit. Mit jeder staatlichen Reaktion auf einen Rechtsbruch betont der Staat aufs Neue, dass die gesetzte Norm Geltung beansprucht. Das Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit soll so gestärkt werden und dadurch Straftaten verhindert werden. Das Strafrecht soll also vor allem abschrecken. Wir haben Dr. Thomas Galli gefragt, ob es einen solchen Abschreckungseffekt überhaupt gibt:
Es wird allgemein behauptet, dass wir Gefängnisse zur Abschreckung brauchen. Das lässt sich natürlich schwer empirisch erforschen ob es Menschen gibt, die eine Tat nicht begehen, weil es Gefängnisse gibt. Es wird in der Sozialpsychologie versucht die Wirkung der Abschreckung zu erforschen, aber man kann grob sagen, dass die Abschreckung deutlich geringer ist, als man vermutet und es viel mehr auf die Aufdeckungswahrscheinlichkeit ankommt als auf die strafende Reaktion. Die Aussage, dass Gefängnisse abschreckend wirken, muss also zumindest in Zweifel gezogen werden.
Auch Prof. Dr. Kölbel sieht das ähnlich. Allerdings differenziert er hier eher aus einer kriminologischen Perspektive.
Die Bedeutung der Abschreckung variiert interpersonal mit den Haltungen und Einstellungen und Habitualisierungen und Normbildungen. Manche Menschen sehen es lockerer, für andere ist die Begehung einer Straftat undenkbar. Für Menschen die so sozialisiert sind, spielt Abschreckung überhaupt keine Rolle. Es spielt auch nicht nur die individuelle Beschaffenheit eine Rolle, sondern auch das kulturelle Umfeld und die soziale Beziehungen des unmittelbaren Umfelds. Wenn ich in einer Gruppe agiere in der ein bestimmtes Verhalten abgelehnt wird, werde ich schon wegen der Gruppenmechanismen und der sozialen Kontrolle durch die Gruppe, so ein Verhalten nicht an den Tag legen, damit ich es mir mit dieser Gruppe nicht verderbe. Dann spielt die Abschreckung des Strafrechts keine Rolle.
Diese Beispiele sollen zeigen, dass diese Frage nicht mit einem Ja oder Nein beantwortet werden kann.
Strafgesetzes können also abschreckend wirken. Allerdings gibt es keine generelle Abschreckungswirkung auf alle Personen. Dem selbst gesetzten Anspruch nach soll der Strafvollzug den Inhaftierten allerdings auch eine Perspektive bieten, damit diese für sich Alternativen erkennen, um nicht wieder straffällig zu werden.
Für die Rechtspraxis ist deshalb die Resozialisierung des Täters der wichtigste Aspekt des Strafvollzugs. Sie ist sogar gesetzlich verankert. In den Strafvollzugsgesetzen der Bundesländer findet sich in den meisten Fällen die Formulierung, dass der Straftäter durch den Vollzug der Freiheitsstrafe befähigt werden soll, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.
Wenn wir über Gefängnisse nachdenken, hat wohl jeder eine bestimmte Vorstellung, wie der Aufenthalt dort aussieht: eine enge Zelle, schlechtes Essen, wenig Kontakt nach Außen. Wir haben Dr. Thomas Galli gefragt, wie der Alltag von Häftlingen konkret aussieht:
Man muss sich vorstellen, dass in den Gefängnissen meist ein paar Hundert Männer untergebracht sind. In großen Anstalten auch 1.000 und mehr. Meist gibt es mehrere Hafthäuser und andere Gebäude in denen Ausbildung und Arbeit stattfindet. Der Alltag ist stark reguliert, sonst könnten so viele Menschen nicht zusammenleben ohne zu viele Konflikte. Vom Aufstehen bis zum ins Bett gehen. Die Tage werden meistens mit Arbeit in Anstaltsbetrieben gefüllt. Auch Unternehmen von draußen lassen in den Anstalten Dinge produzieren. Es gibt therapeutische Maßnahmen und Sportangebote. Eine Stunde Bewegung im Freien ist gesetzlich vorgeschrieben, der sogenannte Hofgang.
Die Frage, die sich jetzt natürlich stellt ist, ob der Freiheitsentzug und das Leben in den Haftanstalten resozialisierende Wirkung hat. Die Resozialisierung von Häftlingen empirisch zu untersuchen ist schwierig. Der wichtigste Anknüpfungspunkt für eine erfolgreiche Resozialisierung wird im Rückfall der Häftlinge gesehen. Damit ist die Anzahl der Häftlinge gemeint, die nach einer verbüßten Haftstrafe erneut wegen Straftaten verurteilt werden.
Die besten Daten dazu liefert die sogenannte Rückfallstatistik des Bundesjustizministeriums.
Mit Hilfe des Bundeszentralregisters wurde untersucht, ob Häftlinge innerhalb eines Zeitraumes von 3 Jahren nach Haftentlassung erneut straffällig werden.
Mit 34 % wird etwa ein Drittel der Häftlinge wird innerhalb von 3 Jahren erneut straffällig. Bei Personen, die zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurden, liegt die Rückfallquote sogar bei 45 %.
Wir möchten jedoch darauf hinweisen, dass die Erfassung der Rückfallquote aus statistischer Sicht problematisch ist. Es wird zum Beispiel darüber gestritten, ob eine fehlende erneute Straftat überhaupt ein Indiz für Resozialisierung sein kann. Außerdem wird auch bei bereits aus der Haft entlassenen Personen nur ein Teil der neuen Straftaten entdeckt, angezeigt und aufgeklärt. Teilweise wird auch geltend gemacht, dass es schon ein Erfolg darstelle, dass die Schwere der Straftaten bei erneuter Begehung abnehmen. Wir haben Dr. Galli um eine Einschätzung gebeten.
Wenn man sich vor Augen führt, dass die Mehrheit der Inhaftierten aus prekären sozialen Milieus stammen, haben einen schlechten Bildungshintergrund, haben eine Suchtproblematik und haben selbst Gewalterfahrungen gemacht. Sie werden auch nur relativ kurz aus dem Verkehr gezogen. Die Hälfte der Freiheitsstrafen in Deutschland sind bis zu einem Jahr. Verkürzt formuliert: nehmen wir den alkohol- und drogensüchtigen Arbeitslosen der immer wieder Dinge klaut und im Rausch gewalttätig wird. Der dann für eine Zeit in Haft kommt und dann wieder in sein Umfeld kommt. Es ist vollkommen an der Realität vorbei zu behaupten, dass es resozialisierend wirkt. Im Gegenteil: es drängt noch weiter weg von der Gesellschaft in die integriert werden soll. Es drängt weiter weg in die Subkultur und das Milieu mit anderen Inhaftierten.
Dr. Galli zeichnet also im Bezug auf die Möglichkeit der Resozialisierung im Gefängnis ein Bild, dass ziemlich düster ist. Auch Prof. Dr. Kölbel sieht das ähnlich.
Zunächst wirkt sie gegenteilig, ganz eindeutig desintegrativ. Führt dazu, dass die Adressaten mit unerwünschten Kontakten konfrontiert werden, schneidet sie von Optionen des normalen Lebensvollzug ab, beschneidet in Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, wirkt also erst einmal kontraproduktiv. Ich will aber nicht bestreiten, dass im Strafvollzug auch Hilfestellungen folgen und Potentiale gefördert werden. Die Frage ist nur, ob das überkompensatorisch wirkt. Ob das also die Nachteile, die der Strafvollzug mit sich bringt, übersteigt. Das hängt von vielen Bedingungen ab. Das hängt von den Personen und ihrem Umfeld ab und der Ausgestaltung des Strafvollzugs, der Zeit des Übergangs und der nachvollzuglichen Phase. Es schließt aber nicht aus, dass Strafvollzug sich bei bestimmten Menschen und Konstellationen sich auch hilfreich erweist. In der Summe muss man doch die Leistungsfähigkeit sehr skeptisch betrachten. Die Schattenseite des Strafvollzugs besteht ja nicht nur in den desintegrativen Wirkungen der unmittelbaren Adressaten, sondern auch die Streuwirkungen die weit darüber hinausgehen. Über diesen Aspekt legt sich die Gesellschaft definitiv keine Rechnung ab. Strafvollzug beeinträchtigt und schädigt auch Angehörige. Strafvollzug mindert die Lebensführungschancen der Kinder der Betroffenen. Es gibt ziemlich überzeugende Untersuchungen die aufzeigen, dass der Strafvollzug ein kriminalitätsfördernder Faktor ist, nicht nur bei denen bei denen er vorgenommen wird, sondern auch in deren Umfeld.
Prof. Kölbel betont, dass auch hier eine Differenzierung angebracht ist, jedoch in der Summe die Skepsis überwiegt. Wir haben bei Dr. Galli noch einmal konkret nach Beispielen für eine desintegrative Wirkung des Strafvollzugs gefragt:
Es gibt große Unterschiede in den Bundesländern. Ich bin in Bayern tätig und vertrete viele Inhaftierte. In Augsburg haben sie einmal im Monat eine Stunde Besuch, das kann man auf zwei Termine aufteilen. Jemand der eine Ehefrau oder Partnerin hat, kann sie zwei Mal eine halbe Stunde im Monat treffen und sonst niemand mehr. So kann man keine Beziehungen nach Außen pflegen oder aufbauen. Je länger die Haft dauert, umso länger werden die Leute abgeschottet von der Außenwelt. Das hat mit Resozialisierung überhaupt nichts zu tun.
Insbesondere der Arbeit in den Haftanstalten wird eine hohe resozialisierende Wirkung beigemessen. Sie soll dem sogenannten „Behandlungsziel“ Rechnung tragen und dem Gefangenen dabei helfen, über die Arbeit Verantwortung zu übernehmen. Die Inhaftierten können zu dieser Arbeit verpflichtet werden. Lediglich in vier Bundesländern gibt es diese Pflicht nicht. Das Gefängnis ist also ein Ort, an dem Menschen offiziell durch den Staat verordnete Zwangsarbeit verrichten müssen. Das Grundgesetz sieht diese Art der Zwangsarbeit in Art. 12 Abs. 3 als zulässig an, wenn sie Bestandteil eines Freiheitsentzuges ist.
Weil diese Arbeit als Resozialisierungsmaßnahme angesehen wird gilt für Gefangene der gesetzliche Mindestlohn nicht. Im Jahr 2021 betrug der durchschnittliche Stundenlohn bundesweit 1,74 Euro. KritikerInnen bezeichnen dies als perfide Art der Ausbeutung und die Bundesweite Organisation Gefangenengewerkschaft fordert eine Orientierung am Mindestlohn. Außerdem werde die desozialisierende Wirkung dadurch verstärkt, dass der Eindruck entsteht, dass sich Arbeit eben nicht lohnt und eventuelle Schulden nach der Haftentlassung nicht bezahlt werden können. Zurzeit ist eine Verfassungsbeschwere beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Die Betroffenen Häftlinge wehren sich unter anderem gegen die geringe Höhe der Vergütung.
Sollten Gefängnisse also grundsätzlich abgeschafft werden?
So weit geht Dr. Galli in seinen Forderungen nicht. Nichtsdestotrotz sieht er die Gesellschaft in der Pflicht Alternativen aufzuzeigen. Vor den Problemen, die der Strafvollzug hat, sollen eben nicht die Augen verschlossen werden.
Gefängnisse schlicht abzuschaffen würde hier zu kurz greifen, denn Gefängnisse dienen in manchen Fällen auch dazu, die Gesellschaft vor bestimmten Menschen zu schützen, die besonders gefährlich sind.
Wie aber soll mit schweren Straftaten wie zum Beispiel Mord und Sexualdelikten umgegangen werden?
Ich würde mich zwar als Abolitionist bezeichnen, aber ich würde nicht alles abschaffen was mit unseren Gefängnissen verbunden ist. Ich würde nicht alle strafenden Interventionen abschaffen. Ich würde auch nicht alle Strukturen und Mechanismen abschaffen, die wir derzeit durch Gefängnisse abdecken. Dazu gehört auch der zwangsweise Freiheitsentzug. Es macht aus meiner Sicht schon Sinn manchen Personen die Freiheit zu entziehen, in manchen Fällen auch bis zum Lebensende. Da geht es aber um die Sicherheit der Allgemeinheit und weniger um die Zufügung eines Übels. Darauf können wir nicht ganz verzichten und auch auf den Strafgedanken können wir nicht verzichten.
Es macht also sehr wohl Sinn die Allgemeinheit vor bestimmten Personen die Tötungsdelikte oder schwere Sexualstraftaten begehen zu schützen. Dies betrifft jedoch einen deutlich geringeren Teil von Menschen, als in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Aktuell sind in Deutschland 1776 lebenslang und ca. 3500 Insassen mehr als fünf Jahre inhaftiert.
Ein häufiger Kritikpunkt gegen Forderungen der Reform oder Abschaffung der Gefängnisstrafe bezieht sich auf das Tatopfer. Es wird behauptet, dass ohne die Gefängnisstrafe den Interessen der Tatopfer nicht genüge getan wird. Die Täter würden ja ansonsten keine Wiedergutmachung durch das Absitzen der Haftstrafe leisten.
Wir haben Prof. Dr. Feest gefragt, ob abolitionistische Forderungen das Tatopfer ausblenden und verdrängen.
Natürlich haben Geschädigte ein legitimes Interesse an Wiedergutmachung. Aber das Strafrecht und die Strafjustiz steht dem häufig eher im Wege. Das klarste Beispiel dafür ist, dass die Freiheitsstrafe eine faktische Entschädigung der Opfer verhindert. Selbst wenn sie arbeiten und Geld verdienen könnten, können sie das nicht mehr.
Prof. Dr. Feest geht also davon aus, dass etwa eine finanzielle Entschädigung der Geschädigten durch einen Freiheitsentzug gerade nicht möglich ist. Auch Dr. Galli ist der Auffassung, dass der derzeitige Strafvollzug den Geschädigten nicht hilft, da er täterzentriert ist und nicht die Geschädigten in den Vordergrund rückt. Zudem zeigt er Alternativen auf:
Unser Strafrecht ist sehr stark täterzentriert und es wird sehr isoliert auf den Täter eingegangen. Das fördert nicht unbedingt die Reue und Schuldeinsicht. Denn der Staat und seine Vertreter sind ja Dritte, die aus der Sicht des Täters gar nichts zu tun haben mit dem was geschehen ist. In abstrakter Form ein Schuldbewusstsein gegenüber Staat und Gesellschaft zu entwickeln, stelle ich mir sehr schwer vor. Ich glaube, dass echte Reue und echtes Schuldbewusstsein bei vielen Tätern möglicherweise gar nicht erzielt werden kann, aber bei einigen sehr wohl gefördert werden könnte. Das aber am ehesten im unmittelbaren menschlichen Kontakt zu Betroffenen und Opfern. Das wird nicht in allen Fällen funktionieren. Natürlich auch nur, wenn Opfer sowieso bereit sind und Interesse daran haben. Natürlich gilt das auch für Täter, man kann sie nicht mit körperlicher Gewalt in irgendwelche Gespräche zwingen. Man könnte das fördern und es spricht auch nichts dagegen, das mit Vorteilen für die Täter zu verbinden. Zu sagen: du kannst aktiv was tun, du kannst dich in einen Prozess mit dem Opfer einlassen und du hast was davon, dass du weniger Zeit im Gefängnis verbringen musst. Die Betroffenen müssten nicht in einem kleinen Haftraum sein, sondern in einer nach außen gesicherten Einrichtung einigermaßen selbstbestimmt leben und in Betrieben arbeiten, bei denen der Erlös den Opfern zugute kommt. So könnte sich ein Täter ein Jahr Freiheitsstrafe weniger erarbeiten und mit dem Geld werden die Opfer oder Hinterbliebenen unterstützt. Eine absolute Wiedergutmachung ist nicht möglich wenn jemand umgebracht wurde. Aber trotzdem ist in fast allen Fällen eine teilweise Schadenswiedergutmachung zumindest denkbar und möglich. Das steht gerade bei schweren Straftaten überhaupt nicht im Fokus von unserem Strafrecht.
Wir haben unsere Gäste außerdem gefragt, welchen psychologischen Effekte Gefängnisse haben und welche Rolle sie für die gesellschaftliche Einstellung zu Haftstrafen spielen. Sie sind sich einig, dass die Ursachenforschung, also warum Menschen eigentlich straffällig werden, viel zu kurz kommt.
Wir sehen es immer wieder: es passieren sehr grausame Dinge, ein Mädchen wird erstochen, ein großer Aufschrei in den Massenmedien. Dann folgt irgendwann das Urteil: lebenslang und Sicherungsverwahrung. Und das Problem scheint gelöst. Ist möglicherweise auch die richtige Rechtsfolge im Bezug auf den konkreten Täter. Aber die Rückschlüsse wie es dazu überhaupt kommen konnte, und die Fragen wie ein Mensch so werden konnte wie waren die Umstände, werden zu wenig öffentlich diskutiert. Vielleicht eben auch weil es Gefängnisse gibt, und man dann immer sagen kann, da ist das Problem verortet, da ist das Problem behandelt. Diese Symbolwirkung verhindert oft ein tieferes und langfristig wirksameres Herangehen an diese Dinge.
Gefängnisse dienen eben oft als Verdrängungsmechanismus mit denen die konkrete Tat dann abgehakt und gelöst sei, sobald die TäterInnen hinter Gittern sind. Die tatsächliche Ursachenforschung nach den Gründen warum die Tat zunächst begangen wurde bleibt dabei oft auf der Strecke.
Dabei ist der aktuelle Strafvollzug extrem teuer. Die Unterbringungskosten für die Inhaftierung allein kostet pro Inhaftierten und Tag zwischen 100 und 150 Euro. Im Jahr 2010 lagen die Gesamtkosten in Deutschland bei rund 2,8 Milliarden Euro.
Abolitionisten sind der Auffassung, dass diese finanziellen Mittel besser in Prävention, Aufklärung oder Sozialarbeit aufgehoben wären. So sollten Sozialarbeit an Schulen, in Betreuung und Therapieangebote und eben auch in Menschen die den Prozess nach und während der Haftstrafe besser begleiten können als bisher besser finanziert werden. Um ein Umdenken zu erzeugen, muss konsequent Druck auf die Politik aufgebaut werden. Denn die Effekte besserer Präventions- und Sozialarbeit sind langfristiger Natur und sichern eben keine kurzfristigen Wählerstimmen, so Galli.
Denn auch wenn Deutschland im internationalen Vergleich noch ein relativ fortschrittliches Land im Hinblick auf das Strafsystem ist, so steht für unsere Interviewgäste und viele Abolitionisten fest, dass die aktuelle Situation extrem problematisch ist.
Der derzeitige Strafvollzug erzeugt nach Auffassung von Thomas Galli drei Opfer: Zum einen den Täter, der desintegriert und kaum bis nicht resozialisiert wird. Zum anderen die Geschädigten, denen die Möglichkeit eines Ausgleichs und einer Bewältigung verwehrt wird
Das dritte Opfer ist die Allgemeinheit. Nicht in allen Fällen aber in der Mehrheit, empirisch schwer zu sagen, dass die Wahrscheinlichkeit vergrößert wird, dass jemand wieder straffällig wird. Dann ist die Allgemeinheit letztlich auch geschädigt.
Auch Prof. Feest hält die Probleme des Strafvollzugs für so groß, dass er den Strafvollzug in seiner jetzigen Form am liebsten abschaffen würde. Dabei ist er sich aber bewusst, dass es Alternativen als Reaktionen auf schädigendes Verhalten geben muss:
Natürlich bin ich kein kompletter Illusionist und glaube, dass man den Strafvollzug abschaffen kann. Das ist ein Langzeitprojekt, mit dem sofort begonnen werden muss und begonnen werden kann.
Mit diesem Zitat wollen wir dann auch zum Ende unserer heutigen Folge kommen und möchten uns an dieser Stelle bei unseren Interviewgästen bedanken.
Was sagt ihr? Könnt ihr die Kritik nachvollziehen oder seid ihr der Auffassung, dass das jetzige Strafsystem seine Berechtigung hat? Schreibt uns eure Meinung auf unseren Social Media Kanälen! Jedenfalls eines sollte klar geworden sein: Die derzeitige Gefängnisstrafe ist keine Selbstverständlichkeit.
Galli: Und deswegen ist es ein gesamtgesellschaftliches Thema und muss stärker in das Bewusstsein und in den Diskurs. Damit man sich wirklich klar wird, was wir im Umgang mit Straffälligen und der Bekämpfung der Kriminalität erreichen wollen. Was erreichen wir derzeit und wie könnten Wege aussehen um das besser zu erreichen.
Ein Podcast von Max Ablass, Thomas Römer und Philipp Ehlen.
Wir bedanken uns herzlich bei Philipp Ehlen der Genehmigung diesen Beitrag zu veröffentlichen.