Ein Interview mit dem Autor und ehemaligen Gefängnisdirektor Dr. Thomas Galli anlässlich seines neuen Buchs „Wie wir das Verbrechen besiegen können – Ideen für eine Überwindung der Strafe“.
Anschließend finden Sie die Rezension zum neuen Buch von Dr. Christine Hubka.

Blickpunkte: Dr. Galli, was hat Sie dazu inspiriert, dieses neue Buch zu schreiben?

Thomas Galli: In meinem letzten Buch habe ich die Institution Gefängnis und die Art der Strafe kritisch hinterfragt. Dabei ging es darum, ob Gefängnisse in ihrer heutigen Form überhaupt geeignet sind, Verbrechen zu verhindern oder die Gesellschaft sicherer zu machen. Durch zahlreiche Veranstaltungen und Diskussionen habe ich erkannt, dass es einerseits Bereitschaft gibt, das System zu hinterfragen – insbesondere für bestimmte Gruppen von Straffälligen. Andererseits ist das tief verankerte Bedürfnis nach Vergeltung eine große Hürde. Dieses Bedürfnis, das wohl evolutionsgeschichtlich bedingt ist, dient in unserer heutigen Gesellschaft oft nicht mehr der Problemlösung. In meinem Buch gehe ich der Frage nach, wie dieses Strafbedürfnis entstanden ist und ob es in seiner heutigen Form noch gerechtfertigt ist. Gleichzeitig stelle ich die Idee vor, dass es Alternativen gibt, die nicht nur menschlicher, sondern auch effektiver sind.

Blickpunkte: Kann eine Gesellschaft, die auf Strafen verzichtet, Gerechtigkeit für Opfer schaffen?

Thomas Galli: Ein völliger Verzicht auf Strafen wäre aus meiner Sicht nicht sinnvoll. Strafen im Sinne von Konsequenzen sind weiterhin notwendig, um Normen und Regeln durchzusetzen. Allerdings ist unser aktuelles Verständnis von Strafe problematisch, weil es oft primär auf die Zufügung von Leid abzielt. Gerechtigkeit bedeutet, die Interessen aller Beteiligten – der Opfer, der Gesellschaft und der Täter – in Einklang zu bringen. Stattdessen konzentrieren wir uns häufig nur auf die Bestrafung des Täters, ohne den Schaden des Opfers angemessen zu berücksichtigen. Dabei wünschen sich viele Opfer nicht nur eine Strafe, sondern auch eine Wiedergutmachung. Ansätze wie Täter-Opfer-Ausgleich können helfen, echte Gerechtigkeit zu schaffen, indem sie dem Täter Verantwortung übertragen und dem Opfer eine aktive Rolle geben. Gleichzeitig müssen wir mehr in Resozialisierungsmaßnahmen investieren, um sicherzustellen, dass Straftäter nach ihrer Strafe nicht wieder rückfällig werden. Gefängnisse bieten dafür in ihrer aktuellen Form jedoch kaum einen geeigneten Rahmen.

Blickpunkte: Gibt es Beispiele, wo ein alternatives Strafsystem erfolgreich umgesetzt wurde?

Thomas Galli: Portugal ist ein sehr gutes Beispiel. Dort hat man den Konsum und Besitz kleiner Mengen von Drogen entkriminalisiert. Statt auf Bestrafung setzt man auf Prävention, Beratung und Therapie. Dadurch konnte die Zahl der Drogentoten, Süchtigen und drogenbezogenen Straftaten erheblich reduziert werden. Ein weiteres Beispiel sind die skandinavischen Länder, die stärker auf offenen Vollzug setzen. Straffällige behalten so den Kontakt zur Gesellschaft und verlieren nicht den Anschluss an das Leben außerhalb. Das führt nachweislich zu niedrigeren Rückfallquoten. Auch in Deutschland gibt es Fortschritte. So wird beispielsweise über die Entkriminalisierung von Schwarzfahren und anderen kleineren Delikten diskutiert. Diese Beispiele zeigen, dass es möglich ist, Strafe differenziert einzusetzen und trotzdem eine sichere und gerechte Gesellschaft zu schaffen.

Blickpunkte: Nach schweren Verbrechen fordern viele härtere Strafen. Wie begegnen Sie diesem Ruf nach Vergeltung?

Thomas Galli: Dieses Bedürfnis nach Vergeltung ist verständlich, denn es hat tiefe emotionale Wurzeln. Es stammt aus einer Zeit, in der Gemeinschaften durch Unrecht oder Regelbruch existenziell gefährdet waren. Doch heute ist dieses Vergeltungsbedürfnis oft kontraproduktiv. Harte Strafen lösen keine Probleme, sondern verschärfen sie häufig. Ein Beispiel ist die Forderung, das Strafmündigkeitsalter zu senken, wenn Jugendliche schwere Verbrechen begehen. Solche Maßnahmen lenken von den eigentlichen Ursachen ab, wie etwa sozialen oder kulturellen Milieus, die solche Taten überhaupt erst ermöglichen. Stattdessen sollten wir stärker darauf achten, welche Bedingungen solche Milieus begünstigen und wie wir diese verändern können. Solche Ansätze sind zwar weniger populär und medienwirksam, aber sie wären langfristig viel effektiver.

Blickpunkte: Könnten mildere Strafen oder der Verzicht auf Strafen Missbrauch und Rücksichtslosigkeit fördern?

Thomas Galli: Das ist eine häufige Befürchtung, aber Forschung zeigt, dass die Abschreckung nicht von der Härte der Strafe abhängt, sondern von der Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden. Ein transparentes und konsequentes System hat eine viel größere präventive Wirkung als drakonische Maßnahmen. Strafen sollten immer differenziert und zweckorientiert sein. Täter-Opfer-Mediation oder Programme zur Schadenswiedergutmachung sind Beispiele für Ansätze, die Täter zur Verantwortung ziehen und gleichzeitig den Opfern helfen. Außerdem fördern sie die Resozialisierung der Täter, was langfristig die Rückfallquote senkt. Rücksichtslosigkeit wird durch milde, aber konsequente Konsequenzen nicht gefördert – im Gegenteil: Sie zeigt, dass Gerechtigkeit in einer modernen Gesellschaft anders funktionieren kann.

Der Autor und ehemalige Gefängnisdirektor Dr. Thomas Galli

Blickpunkte: Können Sie ein Beispiel aus Ihrer beruflichen Praxis nennen, das Ihre Sicht auf Resozialisierung geprägt hat?

Thomas Galli: Ein Fall, der mir besonders in Erinnerung geblieben ist, betrifft einen Mann, der seine Frau misshandelt hatte. Die Anzeige kam nicht von der Frau, sondern von den Nachbarn. Während der Haft wandte sich die Frau an mich, weil sie große finanzielle und familiäre Schwierigkeiten hatte. Ihr Mann hatte als Friedhofsgärtner gearbeitet, und sein Einkommen fehlte der Familie. Ihr pubertierender Sohn geriet in dieser Zeit auf die schiefe Bahn, was die Situation weiter verschärfte. In der Haft hatte der Mann keine Möglichkeit, sich mit seinem Verhalten auseinanderzusetzen – im Gegenteil: In der Gefängniskultur wurde sein Verhalten teilweise sogar toleriert oder positiv dargestellt. Dieser Fall zeigte mir, wie viele Menschen durch eine Inhaftierung betroffen sind und wie wenig das Strafsystem oft dazu beiträgt, solche Probleme zu lösen. Es wird deutlich, dass wir individuellere und nachhaltigere Lösungen brauchen.

Blickpunkte: Wie kann man empathischen Strafvollzug fördern?

Thomas Galli: Empathie ist der Schlüssel zur Resozialisierung. Viele Straffällige haben in ihrer Kindheit und Jugend keine Empathie erfahren und entwickeln sie deshalb auch nicht für andere. Der Staat hat hier eine Vorbildfunktion: Wenn er Empathie zeigt, können Straftäter lernen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Das zeigt sich besonders in Täter-Opfer-Ausgleichsprogrammen, bei denen Täter oft zum ersten Mal das Leid ihres Opfers wirklich verstehen. Solche Programme können die Rückfallquote deutlich senken. Aber auch im Umgang mit den Tätern selbst ist Empathie wichtig. Wenn sie das Gefühl haben, ernst genommen zu werden, erhöht sich die Bereitschaft zur Veränderung. Es geht darum, Täter nicht nur zu bestrafen, sondern sie auf einen besseren Weg zu bringen.

Blickpunkte: Warum ist es so schwierig, geeignetes Personal für den Strafvollzug zu finden?

Thomas Galli: Das liegt unter anderem daran, dass der Strafvollzug in seiner heutigen Form vor allem auf sichere Verwahrung abzielt. Der Anspruch, Resozialisierung zu fördern, wird oft nicht wirklich ernst genommen. Menschen, die sozial engagiert sind und mithelfen wollen, Straffällige zu rehabilitieren, fühlen sich von diesem System oft nicht angesprochen. Es fehlt an klaren Werten und Zielen, die über reine Verwahrung hinausgehen. Wenn der Strafvollzug stärker auf Bildung, Wiedereingliederung und soziale Unterstützung setzen würde, könnte er auch für engagierte Menschen attraktiver werden.

Blickpunkte: Was fasziniert Menschen an Verbrechen und Strafe?

Thomas Galli: Das Interesse an Verbrechen hat evolutionsgeschichtliche Wurzeln. In der Urzeit war die Kooperation innerhalb einer Gruppe überlebenswichtig. Regelverstöße oder unkooperatives Verhalten konnten die gesamte Gemeinschaft gefährden. Deshalb hat sich ein starkes Interesse daran entwickelt, Regelbrüche zu erkennen und zu sanktionieren. Dieses Interesse besteht bis heute. Hinzu kommt die Faszination für das Böse, das in Büchern, Filmen oder Serien oft in einem sicheren Rahmen dargestellt wird. Wenn das Böse dann besiegt wird, erleben wir eine Art Katharsis – ein Gefühl der Erleichterung und Befriedigung.

Blickpunkte: Haben Sie schon Pläne für ein neues Buch?

Thomas Galli: Aktuell arbeite ich zusammen mit zwei Kollegen an einem Drehbuch für einen Kinofilm. Das Thema ist eng mit meinen bisherigen Arbeiten verbunden, dreht sich aber nicht nur um Strafvollzug. Was ein neues Buch betrifft, habe ich derzeit keine konkreten Pläne. Aber wer weiß, welche Erfahrungen und Eindrücke die nächsten Jahre bringen.

Blickpunkte: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Ihre Projekte!

Thomas Galli: Danke ebenfalls!

Thomas Galli: Wie wir das Verbrechen besiegen können. Ideen für eine Überwindung der Strafe. Edition Einwurf.

Gleich vorweg: Die Ideen überzeugen mich und ich hoffe, dass sie auch viele andere überzeugen werden.

Warum ich nach der Lektüre überzeugt bin, hängt auch mit dem Aufbau dieses Buches zusammen:

Im ersten Teil schildert Galli Fallbeispiele unterschiedlichster Art aus seiner anwaltlichen Praxis. Dabei fällt mir wohltuend auf, dass er von den von ihm vertretenen Personen respektvoll und in keiner Weise wertend, sondern sachlich erzählt.

Im umfangreichen Mittelteil beleuchtet er dann Straftaten und das Strafrecht grundsätzlich. Dabei fällt auf, dass er – anders als es üblich ist – Straftaten in einen systemischen Zusammenhang bringt, anstatt sie ausschließlich dem Täter zuzuschreiben. Es geht ihm dabei nicht darum, den Täterzu entlasten. Er sieht vielmehr jede Straftat als Chance für die Gesellschaft und die jeweiligen Verantwortungsträge, etwas im Zusammenleben zu verbessern. Straftaten sind also auch ein Symptom für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Dabei belässt er die Verantwortung durchaus beim Täter. Ja er meint, dass diesem durch Bestrafung und Gefängnisaufenthalt gerade diese Verantwortung nicht übertragen wird.

Bei alldem hat Galli auch die Bedürfnisse der Opfer im Blick, denen zum Teil weniger an einer Bestrafung des Täters liege als daran, dass das ihnen zugefügte Unrecht anerkannt und soweit wie möglich auch kompensiert wird.

Dass das alles nicht nur die Meinung eines Einzelnen ist, wird deutlich durch den großen Chor an Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Disziplinen rund um das Strafrecht, die hier zu Wort kommen. Auch Erfahrungen anderer, die bereits teilweise seinen Ansatz anwenden, unterstützen das Anliegen.

Im dritten und letzten Teil nimmt er dann einige Beispiele aus Teil eins wieder auf und zeigt, wie der Ansatz, dass der Täter Verantwortung übernimmt, statt weggesperrt zu werden, wirken kann. Er zeigt auch die Grenzen auf, die diese Form des Strafvollzugs in einzelnen Fällen hat. Hier ist also kein Sozialromantiker am Werk, sondern ein erfahrener und reflektierter Fachmann. Ich wünsche mir und uns allen, dass dieser Ansatz ernsthaft diskutiert und erwogen wird. Denn Galli hat mich überzeugt, dass er auch uns, die wir nicht straffällig werden, einen Gewinn bringt. Wer wünscht sich nicht eine Gesellschaft, wo weniger Menschen zu Rechtsbrechern werden und dort, wo es dennoch geschieht, die Betroffenen besser entschädigt werden.